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Die Reise Nach Petuschki

Titel: Die Reise Nach Petuschki
Autoren: Wenedikt Jerofejew
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lebendigen Menschen begegnen würdest, könntest du dann die Lippen öffnen vor Kälte und Kummer? Jawohl, vor Kummer und Kälte... O Stummheit! Wenn ich einmal sterbe — ich werde sehr bald sterben, das weiß ich — werde ich sterben, ohne diese Welt angenommen zu haben, nachdem ich ihr aus der Nähe und aus der Ferne ins Gesicht gesehen, sie von außen und innen ergründet habe. Ich werde sterben, ohne sie angenommen zu haben, und Er wird mich fragen: »Nun, wie war es dort? Hat es dir gefallen?« Doch ich werde schweigen. Ich werde die Augen senken und schweigen. Diese Stummheit ist jedem bekannt, der den Ausgang eines viele Tage dauernden schweren Rausches kennt. Ist nicht das ganze Leben nur ein flüchtiger Rausch der Seele? Eine Verfinsterung der Seele? Wir alle sind wie betrunken, nur jeder auf seine Weise, der eine hat mehr getrunken, der andere weniger. Und bei jedem wirkt es sich anders aus: der eine lacht dieser Welt ins Gesicht, und der andere weint an der Brust dieser Welt. Der eine hat sich schon ausgekotzt und fühlt sich wohl, während dem anderen gerade erst schlecht wird. Und ich? Ich habe vielerlei durchprobiert, aber nichts hat gewirkt. Ich mußte kein einziges Mal richtig lachen, und gekotzt habe ich auch kein einziges Mal. Ich, der in dieser Welt so unendlich vieles durchprobiert hat, daß Rechnung und Reihenfolge durcheinandergeraten, ich bin nüchterner als alle andern auf dieser Welt. Auf mich wirkt einfach nichts ... »Warum schweigst du?«, wird mich der Herr fragen, von blauen Blitzen umzuckt. Doch was werde ich darauf erwidern können? Ich werde schweigen und schweigen ...
    Vielleicht sollte ich doch die Lippen öffnen, eine lebendige Seele finden und nach der Uhrzeit fragen ...?
    Was willst du eigentlich mit der Uhrzeit, Wenitschka? Geh lieber weiter, geh, schirme dich vorm Wind ab irnd geh, schön langsam... Es gab Zeiten, da hattest du das Paradies auf Erden, da hättest du nach der Uhrzeit fragen sollen — letzten Freitag. Jetzt gibt es kein Paradies mehr, was willst du da noch mit der Uhrzeit? Die Königin ist nicht zu dir auf den Bahnsteig gekommen, mit ihren Wimpern, zur Erde gesenkt... Die Gottheit hat sich von dir abgekehrt, wozu sollst du jetzt noch nach der Uhrzeit fragen? Diejenige, von der du scherzend gesagt hast, sie sei keine Frau, sondern ein Blancmanger, ist nicht zu dir auf den Bahnsteig gekommen. Die Labsal des Menschengeschlechts, die Lilie dieses Tales ist nicht gekommen, um dich abzuholen. Welchen Sinn hat es jetzt noch, nach der Uhrzeit zu fragen, Wenitschka?
    Was ist dir geblieben? Morgens Wehklagen, abends Weinen, nachts Zähneknirschen... Und wen, wen auf der Welt geht mein Herz etwas an? Wen? ... Geh in ein beliebiges Haus in Petuschki, an eine beliebige Schwelle und frage: »Was geht euch mein Herz an?« O mein Gott ... Ich bog um die Ecke und klopfte an die erstbeste Tür.

Petuschki. Ringstraße
    Ich klopfte und wartete zitternd vor Kälte, daß man mir öffnete ... Merkwürdig hohe Häuser haben sie in Petuschki hingebaut...! Übrigens, das ist immer so. Nach einem schweren, viele Tage dauernden Rausch erscheinen alle Leute gräßlich böse, die Straßen unermeßlich breit, die Häuser beängstigend groß ... Alles wächst genau um so viel, wie alles nichtiger erscheint als es wirklich ist, wenn man betrunken ist,.. Erinnerst du dich an das Lemma des Schnurrbärtigen?
    Ich klopfte noch einmal, etwas lauter als vorher.
    Ist es wirklich so schwer, einem Menschen die Tür zu öffnen und ihn für drei Minuten einzulassen, um sich aufzuwärmen? Das verstehe ich nicht... Sie, die Ernsthaften, verstehen es nicht, und ich, das Leichtgewicht, werde es nie verstehen... »Mene mene tekel upharsin«, das heißt, gewogen und zu leicht befunden, das heißt »tekel«... Und wenn schon...
    Egal, ob es dort eine Waage geben wird oder nicht — dort werden ein Seufzer und eine Träne schwerer wiegen als Berechnung und Absicht. Ich weiß das besser als ihr irgend etwas wißt. Ich habe viel erlebt, viel getrunken und viel nachgedacht — ich weiß, was ich sage. Alle eure Leitsterne sind dem Untergang geweiht, und wenn überhaupt, so flackern sie nur noch mit letzter Kraft. Ich kenne euch nicht, Menschen, ich kenne euch schlecht, ich habe euch selten Beachtung geschenkt, doch ihr geht mich was an: es beschäftigt mich, wie es in euren Seelen aussieht, denn ich möchte Gewißheit haben, ob der Stern von Bethlehem erneut aufleuchten wird oder ob er schon wieder zu flackern
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