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Die Reise Nach Petuschki

Titel: Die Reise Nach Petuschki
Autoren: Wenedikt Jerofejew
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auch noch! Kicherte, fletschte die Zähne und kicherte wieder! Mich fröstelte erneut. »Nicht doch, Mithridates, nicht doch!« flüsterte ich oder schrie, ich weiß es nicht. »Nimm das Messer weg, nimm es weg! Warum nur ...?«
    Aber er hörte nicht mehr und schwang schon das Messer, als wären tausend schwarze Teufel in ihn gefahren... »Unhold!« Ich fühlte plötzlich einen Stich in der linken Seite, und ich stöhnte leise auf. Ich hatte nicht mehr die Kraft, das Messer abzuwehren... »Hör auf, Mithridates, hör auf ...«
    Im gleichen Augenblick verspürte ich einen Stich in der rechten Seite, dann wieder in der linken und wieder in der rechten. Ich konnte nur noch kraftlos winseln und versuchte, wahnsinnig vor Schmerzen, mich in irgendeine Ecke des Bahnsteigs zu verkriechen. Ich erwachte unter Krämpfen. Ringsum nichts als Wind, Dunkelheit und Hundekälte. »Was ist mit mir? Wo bin ich? Warum nieselt es so? Mein Gott...«
    Ich schlief wieder ein. Und wieder begann all das, das Frösteln, die Hitze, das Fieber. Und dort, aus der Ferne, wo der Nebel beginnt, kamen zwei Kolosse auf mich zu-geschwommen. Es waren der Arbeiter mit dem Hammer und die Kolchosbäuerin mit der Sichel aus der Skulptur von Muchina. Sie kamen ganz nahe an mich heran und grinsten. Der Arbeiter versetzte mir mit dem Hammer einen Schlag auf den Kopf, und die Bäuerin schlug mir die Sichel in die Eier. Ich schrie auf, wahrscheinlich laut, und erwachte wieder. Diesmal unter noch stärkeren Krämpfen. Alles an mir zuckte, das Gesicht, die Kleider, die Seele und die Gedanken.
    O dieser Schmerz! O diese hündische Kälte! O Unmöglichkeit! Wenn jeder meiner Freitage in Zukunft so sein wird wie der heutige, werde ich mich an einem der Donnerstage aufhängen! ... Habe ich mir solche Zuckungen von dir versprochen, Petuschki? Wer hat deinen Vöglein die Kehle durchgeschnitten und deinen Jasmin zertrampelt, solange ich auf dem Weg zu dir war? Himmlische Mutter, ich bin in Petuschki...!
    Macht nichts, macht nichts, Jerofejew... Talitha qûmî, wie der Erlöser sagte, das heißt, stehe auf und geh. Ich weiß, ich weiß, du bist überfahren und zerquetscht an allen Gliedern und in der ganzen Seele, und der Bahnsteig ist naß und menschenleer. Und niemand ist gekommen, um dich abzuholen, und es wird auch nie mehr einer kommen.
    Und trotzdem, stehe auf und geh! Versuche es... Aber das Köfferchen! O Gott, wo ist dein Köfferchen mit den Gastgeschenken? Zwei Gläser Nüsse für den Jungen, eine Schachtel Pralinen ›Kornblume‹ und die leeren Flaschen. Wo ist das Köfferchen? Wer hat es gestohlen und warum? Es waren doch die Geschenke drin! Sieh mal nach, ob du noch Geld hast, vielleicht hast du noch ein bißchen. Ja, ja, ein bißchen habe ich noch, ein ganz, ganz kleines bißchen. Doch was nützt dir jetzt das Geld? O Vergänglichkeit. O Vergeblichkeit! O du traurigste und schmachvollste Zeit im Leben meines Volkes — o Zeit zwischen Schließung der Geschäfte und Morgendämmerung ...!
    Macht nichts, macht nichts, Jerofejew... Talitha qûmî
    , wie deine Königin sagte, als du im Sarg lagst, das heißt, stehe auf, klopf deinen Mantel und die Hose ab, schüttle dich und geh. Versuch wenigstens zwei Schritte, danach wird es leichter. Je weiter, desto leichter. Du hast dem kranken Jungen selbst gesagt: »Heißa Kathreinele, schnür dir die Schuh...« Und das Wichtigste — geh von den Schienen weg, hier fahren ewig Züge, von Moskau nach Petuschki und von Petuschki nach Moskau. Geh weg von den Schienen. Gleich wirst du alles erfahren. Warum nirgends eine Menschenseele ist, wirst du erfahren, warum sie dich nicht abgeholt hat, und alles andere... Geh, Wenitschka, geh ...

Petuschki. Bahnhofsplatz
    Wenn du nach links gehen willst, Wenitschka — dann geh nach links. Wenn du nach rechts gehen willst — dann geh nach rechts. Dir kann es egal sein, wo du hingehst. Darum geh am besten geradeaus, wo das Auge hinsieht ...
    Jemand hat mir einmal gesagt, daß es ganz einfach ist zu sterben: man braucht nur vierzigmal hintereinander ganz tief, so tief wie nur möglich, einzuatmen, und genauso- oft auszuatmen, aus tiefstem Herzen. Dann wird man seinen Geist aufgeben. Vielleicht sollte ich es versuchen? Doch warte, warte ...! Vielleicht sollte ich mich erst nach der Uhrzeit erkundigen? Erkundigen, wie spät es ist...? Aber wen sollte ich fragen, wo doch keine Menschenseele auf dem Platz ist, und zwar ganz entschieden keine einzige. Und wenn du tatsächlich einem
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