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Die Reise Nach Petuschki

Titel: Die Reise Nach Petuschki
Autoren: Wenedikt Jerofejew
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Petuschki
    ... die Türen der Abteile klapperten und heulten, immer lauter und durchdringender. Und was war das? Durch das Fenster kam der Traktorist Jewtuschkin hereingeflogen und segelte längs durch das Abteil. Sein Gesicht war blau vor Angst. Gleich darauf stürzte sich eine Horde Erinnyen ins Abteil, und ihm nach ... Es klirrten die Schellen und Tschinellen.
    Mir standen die Haare zu Berge. Ich sprang auf, wie von Sinnen, und begann mit den Füßen zu stampfen: »Bleibt stehen, Mädchen! Ihr Göttinnen der Rache, bleibt stehen! Es gibt keine Schuldigen in dieser Welt...!« Aber sie liefen immer weiter ...
    Als die letzte auf gleicher Höhe mit mir war, verlor ich die Beherrschung und packte sie von hinten. Sie keuchte vom Laufen. »Wohin? Wohin lauft ihr alle?«
    »Was willst du? Weg da-a-a! Laß lo-o-os!«
    »Wohin? Diese endlose Fahrt — wohin?«
    »Was geht's dich an, Wa-a-ahnsinniger ...!«
    Doch plötzlich drehte sie sich zu mir herum, umschlang meinen Kopf und küßte mich auf die Stirn — so unerwartet, daß ich ganz verlegen wurde, mich hinsetzte und anfing, Sonnenblumenkerne zu knabbern.
    Und während ich knabberte, lief sie ein paar Schritte weiter, sah mich an, kam wieder zurück und gab mir einen Backenstreich auf die linke Wange. Gab mir einen Backenstreich, schwang sich zur Decke und jagte davon, ihren Freundinnen nach. Ich stürzte ihr nach, unter mörderischen Halsverrenkungen ...
    Die Sonne versank feuerrot am Himmel, die Pferde schnaubten. Wo war das Glück, von dem die Zeitungen schreiben?
    Ich lief und lief, durch Sturm und Nacht, und riß die Türen aus den Angeln. Ich wußte, daß der Zug »Moskau-Petuschki« in diesem Augenblick entgleiste. Die Wagen flogen durch die Luft, schlugen auf der Erde auf und brachen zusammen, wie ohnmächtig... Ich taumelte und schrie:
    »O-o-o-o-oh! Sto-o-o-p! ... A-a-a-ah ...!«
    Ich schrie und traute meinen Augen nicht: der Chor der Erinnyen kehrte zurück. Sie kamen vom vordersten Wagen direkt auf mich zugeflogen, in einer panischen Herde. In ihrem Gefolge der wutschnaubende Jewtjuschkin. Die Lawine warf mich um und begrub mich unter sich... Die Tschinellen klirrten immer noch, und die Schellen rasselten. Sterne fielen auf die Türschwelle des Landwirtschaftssowjets. Und Sulamith bog sich vor Lachen.

Petuschki. Bahnsteig
    Danach löste sich natürlich alles in Luft auf. Nebel war das, sagt ihr? Kann schon sein. Ja, es war wohl Nebel. Und wenn ihr meint, es war kein Nebel, es war Feuer und Eis, abwechselnd Feuer und Eis, dann werde ich euch auch nicht widersprechen. Ja, es war wohl Feuer und Eis. Das heißt, zuerst gerinnt das Blut in den Adern, und wenn es erstarrt ist, beginnt es sofort wieder zu kochen, und sobald der Siedepunkt erreicht ist, erstarrt es von neuem.
    »Ich habe Fieber«, sagte ich mir, »überall dieser heiße Nebel — das kommt vom Fieber. In mir der Schüttelfrost und draußen der heiße Nebel.« Und aus diesem Nebel löste sich plötzlich eine mir gut bekannte Gestalt. Sollte es Achilles sein? Jedenfalls kannte ich ihn gut. Ah! Jetzt erkannte ich ihn ganz deutlich: es war Mithridates, König von Pontos. Er war über und über mit Rotze verschmiert, und in der Hand hielt er ein Messer ...
    »Mithridates, bist du es?« Mein Herz war schwer und meine Stimme klang tonlos. »Bist du es, Mithridates?« »Ich bin es«, antwortete Mithridates, König von Pontos. »Warum bist du so verschmiert?«
    »Das ist immer so bei mir. Bei Vollmond läuft bei mir
    immer die Rotze
    »Und an anderen Tagen nicht?«
    »Es kommt auch an anderen Tagen vor. Aber nicht so schlimm wie bei Vollmond.«
    »Und du wischst sie überhaupt nicht ab?« Ich konnte nur noch flüstern. »Wischst du sie nie ab?«
    »Wie soll ich es dir erklären? Manchmal wische ich sie ab, doch bei Vollmond ist das aussichtslos. Je mehr man wischt, desto mehr verschmiert man sie. Schließlich hat jeder seinen eigenen Geschmack. Der eine läßt seine Rotze gern laufen, der andere wischt sie ab, und der dritte verschmiert sie. Bei Vollmond ...«
    Ich unterbrach ihn:
    »Du sprichst sehr schön, Mithridates, doch warum hast du ein Messer in der Hand?«
    »Na, warum wohl? Erstechen werde ich dich — darum! Und du fragst. Ist doch ganz klar — erstechen werde ich dich...«
    Und wie er sich sofort verändert hatte! Bisher hatte er ganz friedlich gesprochen, aber nun fletschte er die Zähne, und sein Gesicht verfinsterte sich. Und wieso war plötzlich die Rotze verschwunden? Jetzt kicherte er
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