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Die rechte Hand Gottes

Die rechte Hand Gottes

Titel: Die rechte Hand Gottes
Autoren: Michel Folco
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Handgemenge. Auf dem Gang drängte man sich um die Tür herum, um besser sehen zu können.
     
    Martine fiel zu Boden, und ihr Knoten löste sich. Anatole drehte ihr die Hände auf den Rücken und fesselte sie. Anschließend mußte man sie hochziehen und auf den Hocker setzen, der vollständig unter ihrem enormen Gesäß verschwand.
    »Ich will ihn nicht wiedersehen«, schluchzte sie mit der Stimme eines kleinen Mädchens, und sie erklärte ihnen, daß es nicht der Tod war, den sie fürchtete, sondern das Wiedersehen »dort oben« mit ihrem Vater, jenem Vater, den sie im Schlaf erstickt hatte. Und diese Vorstellung entsetzte sie.
    Martine zuckte zusammen, als Saturnin ihr Haar im Nacken zusammenfaßte und mit einer silbernen Schere, deren Enden abgerundet waren, abschnitt. Sein Großvater hatte sie ihm am Abend vor seiner Abreise gegeben. Sie hatte dem Rächer gehört, der sie vom besten Scherenmacher von Laguiole nach Maß hatte anfertigen lassen.
    Nach den Haaren schnitt der junge Mann den Kragen der
    Bluse ab. Wie Casimir es ihm gezeigt hatte, fing er im Nacken an: »Wenn es eine Frau ist, mußt du den Anstand wahren, du darfst nicht zu tief abschneiden.«
    Er konzentrierte sich sehr auf seine Arbeit und merkte gar nicht, daß er dabei seine Lektionen hersagte und alle ihn anstarrten.
    »Der senkrechte Schnitt beträgt zehn Zentimeter... So, das ist fertig... der waagerechte Schnitt muß unter dem zweiten Blusenknopf liegen ... So ... «
    »Was sagt er?« fragten die, die im Gang standen.
    Als er fertig war, steckte er den Kragen in die Tasche und schob die Schere zurück in das Etui aus Haifischhaut. Dann hob der den Kopf und suchte Anatoles Blick. Er errötete, als er bemerkte, daß ihn alle ansahen.
    »Sie ist fertig, Meister.«
    Gemäß dem Ritual ging der Gefängnisdirektor auf die Verurteilte zu und fragte sie, ob sie noch einen letzten Wunsch habe.
    »Ja, ich will nicht sterben«, antwortete sie sogleich hoffnungsvoll.
    »Ich fürchte, diesen Wunsch kann ich Ihnen nicht erfüllen. Wollen Sie nicht ein Glas Alkohol oder eine Zigarette?«
     
    Die dicke Frau senkte den Kopf und begann wieder zu weinen. Anatole machte ein Zeichen, daß der Augenblick gekommen sei. Ohne weitere Umstände packten Yvon und der »Dicke Louis« sie bei den Armen. Henri ging hinter ihnen für den Fall, daß er ihnen zu Hilfe kommen müßte. Da die Fußfesseln sie behinderten, bewegte sich Martine mit kleinen Schritten vorwärts.
    »Macht den Weg frei«, befahl der Scharfrichter den Zuschauern auf dem Gang.
    Der Weg bis zum Hof schien unendlich lang. In den meisten Fällen wurde der Verurteilte mehr oder minder von den Gehilfen getragen, und es ging im Laufschritt voran, doch in diesem Fall ...
    Es war 6.35 Uhr, als sie den Wagen erreichten, und Anatole hatte fünf Minuten Verspätung. Die Vorschriften waren sehr streng: So kurz der Weg auch sein mochte, der Verurteilte durfte sich nicht zu Fuß zum Ort der Hinrichtung begeben.
    Ein befriedigtes »Aaaaa! « ging beim Anblick des Wagens durch die Menge, die sich vor dem Gefängnis drängte. Und schon erreichten sie die Straßenecke. Die Absperrung der Nationalgarde öffnete sich, um sie durchzulassen. Saturnin bemerkte, daß einige Polizisten versuchten, die Neugierigen von den Bäumen zu vertreiben, auf die sie geklettert waren.
    Beim Anblick der Guillotine fing Martine an zu schreien und, was schlimmer war, sie ließ sich auf den Boden fallen.
    »Schnell, wir müssen sie tragen«, sagte Anatole und bückte sich, um selbst mit Hand anzulegen.
    »Steh auf, meine Tochter, füge dich«, ermutigte sie der Priester aus sicherer Entfernung.
    Da sie sich immer heftiger wehrte, schleiften sie sie über die gefrorenen Pflastersteine. Ein großer, nasser Fleck, der in der eisigen Luft dampfte, zeichnete sich unter ihrem Kleid ab.
    »Sie pinkelt! Das hat uns gerade noch gefehlt!« zischte Anatole zwischen den vor Anstrengung zusammengebissenen Zähnen.
    »Neeeeeeeiiin!« brüllte sie erneut, als sie nur noch ein Meter von der Maschine trennte.
     
    Ihr Schrei hallte in dem betroffenen Schweigen wider. Gerade wollte sie ein weiteres Mal loskreischen, doch Saturnin, der den Zuschauern den Rücken zuwandte, umfaßte schnell mit Daumen und Zeigefinger ihren Hals und drückte ihr brutal die Halsschlagader ab. Der Schrei erstarb.
    » Eins, zwei, drei! « zählte der Meister.
    Sie stemmten den Körper hoch wie einen schweren Kartoffelsack und warfen ihn auf das Schaukelbrett, das unter ihrem Gewicht
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