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Die rechte Hand Gottes

Die rechte Hand Gottes

Titel: Die rechte Hand Gottes
Autoren: Michel Folco
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verschwunden war, ehe er sich auf den Rückweg machte.
    Hippolyte hatte ihn in seinem letzten Brief um eine Fotografie von Charles Henris Grab auf dem Friedhof von Montmartre gebeten, die er in den Raum hängen wollte, der der Familie Sanson vorbehalten war. Der Meister hatte Saturnin versprochen, ihm beizubringen, wie sein Fotoapparat funktionierte.
    In dem Tabakladen an der Porte Saint-Cloud kaufte er fünf Päckchen Piccadilly für Deibler, der dem englischen Tabak so sehr zusprach, daß er bis zu zwei Päckchen am Tag rauchte, was ihm einen mitleiderregenden Husten eingebracht hatte. Ein solches Laster war für Saturnin, der noch nie geraucht hatte, unvorstellbar.
    Als er in das Haus zurückkehrte, stand Anatole im Flur und zog gerade seinen Wintermantel an.
    »Ah, da bist du ja endlich. Unsere Fotografiestunde müssen wir verschieben. Ich muß ins Ministerium. Inzwischen kannst du die anderen verständigen, daß der Auftrag für morgen früh ist.«
    Das Gesicht des jungen Mannes leuchtete auf:
    »Wir haben eine Hinrichtung?«
    »Ja.«
    » Darf ich den Auftrag sehen? Ich habe noch nie einen aus der heutigen Zeit gesehen.«
    Der Meister reichte ihm das rosafarbene Formular.
    Monsieur. .. ANATOLE FRANCOIS DEIBLER... oberster Scharfrichter am Kriminalgericht, wird aufgefordert, sich zum ... PLACE VENDÖME... zu begeben, um dort die Anweisungen des Generalstaatsanwalts am Berufungsgericht von ... PARIS ... in Empfang zu nehmen, bezüglich der Hinrichtung des der Angeklagten ... MARTINE GOUDUT..., der die am ... 16.AUGUST 1912 ... vom Schwurgericht von ... PARIS ... wegen ... VATERMORDES. .. zum Tode verurteilt wurde.
    Er wird von ... ersten Gehilfen und ... zweiten Gehilfen begleitet.
    Er hat den vorliegenden Auftrag dem Generalstaatsanwalt zu übergeben.
    Die Hinrichtung wird am ... 16. OKTOBER 1913 ... im Morgengrauen am ... BOULEVARD ARAGO ... stattfinden.
    Eine Vorverlegung ist in keinem Fall möglich.
    Saturnin gab ihm den Auftrag zurück.
    »Großvater wird sich freuen. Jetzt bin ich ja schon seit zweiundvierzig Tagen hier.«
    »Hast du gesehen, daß es sich um eine Frau handelt?«
    »Ja, ich werde auf meine Finger achten.«
    Er spielte auf die drei Fingerglieder an, die Hippolyte fehlten.
    »Und es stört dich nicht, daß es eine Frau ist?« beharrte Anatole, den soviel Unverfrorenheit verwirrte.
    » Ein Hals ist ein Hals. Ach ja, auf dem Formular ist das des Angeklagten von Hand in der Angeklagten abgeändert.«
    »Ja, und was schließt du daraus?«
    »Daß bei der Verwaltung keine Formulare für Frauen vorgesehen sind.«
    Am 1.50 Uhr morgens hielt der Darracq in der Rue de la Folie-Régnault vor dem Haus 60a. In dem engen Hof standen ein altes Pferdegespann und eine rechteckige, geschlossene Kutsche mit grünen Rädern. Die Türen des Schuppens waren offen. Im Inneren herrschte geschäftiges Treiben. Henri saß auf einem Hocker und schärfte die Schneide des Fallbeils mit einem Schleifstein. Yvon und der »Dicke Louis« hatten die »Maschine« beinahe abgebaut, Saturnin
    hatte schon die Schaufeln, die Eimer, die Wischlappen und die Säcke mit den Sägespänen in die Kutsche gebracht und wollte gerade den Weidenkorb einladen, als Anatole eintraf.
    »Alles in Ordnung?« fragte er statt einer Begrüßung.
    »Ja, Meister«, antworteten sie im Chor.
    Um 2.45 Uhr war alles fertig. Der »Dicke Louis« löschte die Petroleumlampen, und Anatole schloß den Schuppen ab. Saturnin nahm den Pferden die Decke ab, die sie vor der Kälte geschützt hatten, und kletterte auf den Kutschbock.
    Da er den Weg nicht kannte, folgte er dem Darracq, der langsam, mit aufgeblendeten Scheinwerfern vor ihm herfuhr. Sie fuhren durch ein verlassenes, gespenstisches Paris und begegneten nur bisweilen einem Polizisten auf seinem Fahrrad, der seine Runde machte. Einige von ihnen erkannten den Wagen und liegen ihren Lenker los, um eine Hand zum Gruß zu heben.
    Alle Gaststätten am Boulevard Arago, bis hin zum Place Denfert-Rochereau, hatten von der Präfektur die Genehmigung bekommen, die ganze Nacht über geöffnet zu bleiben; sie waren dichtbesetzt mit Neugierigen, die nur die Kälte im Inneren zurückhielt. Polizisten in Pelerinen sperrten alle Straßen ab, die auf den Boulevard führten, und eine Kompanie der Nationalgarde paradierte an der hohen Mauer des Gefängnisses Santé entlang.
    Anatole stieg aus dem Darracq und zeigte Saturnin den Hinrichtungsplatz an der Ecke der Rue de la Santé und des Boulevards. Der Inhalt der Kutsche wurde
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