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Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie

Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie

Titel: Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie
Autoren: dtv
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abgesehen davon, Oscar, dass eine sehr schnelle Rakete nötig wäre, um zurückin die Vergangenheit zu reisen. Sie müsste so schnell fliegen, dass sie zu Staub zerfallen würde, und alle Passagiere würden mit ihr zu Staub zerfallen.«
    »Aber was ist mit vorwärts? Könnte jemand wie ich in die Zukunft reisen, ein kleines Stückchen nur?«, fragte ich. »Vielleicht gerade nur so weit, um meinen Dad zu finden?«
    »Oh, vorwärts ist, laut Professor Einstein, auch Teil der Theorie«, erwiderte Mr Applegate.
    Ich sah Mr Applegate verwirrt an.
    Er erklärte noch mehr, wenn erklären das richtige Wort ist – ich verstand kein Wort von dem, was er sagte. »Oscar, wenn du in die Zukunft reisen wolltest, müsstest du dich langsamer fortbewegen als die Zeit selbst. Du müsstest dem Prinzip der negativen Geschwindigkeit folgen. Die Zeit würde dich einfach überholen.«
    »Hat Professor Einstein einen Weg erfunden, das zu tun?«, fragte ich.
    »Ach, Oscar«, antwortete Mr Applegate und aß jetzt seinen Pfannkuchen, »Professor Einstein ist bloß ein Mathematiker, kein Erfinder.«
    »Es gibt immer einen Haken«, sagte ich und schaute auf meine erste Aufgabe des Tages.
    Ein Zug verlässt Station A um 14 Uhr. Er kommt in Station B 3 Stunden, 4 Minuten und 30 Sekunden später an. Station B ist 75,6 Meilen von Station A entfernt. Wie schnell fährt der Zug?
    »Wen kümmert das?«, stöhnte ich. »Wen kümmern dieser dumme Zug, die Metzger oder die Leberpreise?«
    Jeden Tag verputzte Mr Applegate das Essen mit der Geschwindigkeit eines hungrigen deutschen Schäferhunds. Jeden Tag erzählte er mir, wie es mit seiner Jobsuche voranging. In einer Woche harkte er Blätter im Stadtpark für fünfundzwanzig Cent pro Stunde. An einem anderen Tag wechselte er in der Mobil-Werkstatt, unter den Autos auf dem Rücken liegend, Öl. Es war keine feste Stelle zu bekommen.
    Die Berichte über die Arbeitslosigkeit machten mir Angst. Ich fürchtete, das Gleiche würde meinem Dad da drüben in Kalifornien passieren. Tarnten Dads muntere Postkarten aus dieser oder jener Stadt nur seine Hoffnungslosigkeit? Waren seine Taschentücher zerrissen? Hatte er Sorgenfalten auf der Stirn wie Mr Applegate?
    »Poesie hilft einem, schwere Zeiten zu überstehen,Oscar. Gedichte sind wie ein Heilmittel«, erklärte mir Mr Applegate. »Die Welt hat die Poesie vergessen und wie sie Körper und Seele heilt.«
    Mr Applegate aß seinen Pfannkuchen auf, lehnte sich zurück und ein Strom von Versen sprudelte aus seinem Mund. Es war ein belehrendes Gedicht, eine Art Moralpredigt wie in der Sonntagsschule, aber ich spürte, wie mir beim Zuhören eine Gänsehaut über den Rücken lief.
    »Das hat mir gefallen, Mr Applegate!«, sagte ich anerkennend.
    »Es ist ein sehr berühmtes Gedicht und heißt ›Wenn‹, Oscar, und es stammt von Rudyard Kipling. Kommenden Juni wird in jeder Schule in Amerika irgendein Unglücksrabe diese olle Kamelle bei der Abschlussfeier vortragen müssen. Priester lieben es, Lehrer lieben es! Weinerliche alte Armee-Offiziere lieben es! Aber, verflixt noch mal, wenn mich die Verzweiflung überkommt, tröstet es mich, dieses Gedicht aufzusagen.«
    »Wie können Sie so viele Zeilen im Gedächtnis behalten?«, fragte ich.
    »Man braucht dafür nur ein bisschen Grips und Geduld.«
    »Wow!«, sagte ich. »Könnten Sie mir das beibringen?«
    »Pass auf«, sagte Mr Applegate. Er schlug das Buch der Gedichte für besinnliche Stunden bei K für Kipling auf und zeigte mir das Gedicht »Wenn«. Ich überflog die erste Strophe.
    Wenn du kühlen Kopf bewahrst,
    wo alle andern ihren verlieren
    und dir dafür die Schuld zuschieben;
    Wenn du dir selbst vertrauen kannst,
    wo alle andern dir misstrauen,
    und auch Nachsicht übst mit ihnen;
    Wenn du geduldig warten kannst,
    ohne im Warten zu ermüden,
    Oder wenn man dich belügt,
    so antworte nicht mit Lügen,
    Oder wenn man dich hasst,
    so antworte nicht mit Hass,
    Und zeige dich dennoch nicht allzu edel
    Und sprich nicht allzu klug …
    »Nun lies es noch einmal ganz langsam und denk dabei über den Sinn der Worte nach«, sagte Mr Applegate.
    Ich versuchte es. Er ließ mir Zeit, mich in das Gedicht zu vertiefen.
    »Verstehst du es?«, fragte er schließlich.
    Ich nickte, nicht ganz überzeugt.
    »Jetzt versuch, dir für jedes ›Wenn‹ eine reale Situation vorzustellen«, sagte Mr Applegate.
    »Das kann ich nicht«, antwortete ich.
    »Dann versuchen wir es gemeinsam«, schlug Mr Applegate vor.
    Zeile für Zeile
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