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Die Räder der Zeit: Roman (German Edition)

Die Räder der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Die Räder der Zeit: Roman (German Edition)
Autoren: Jay Lake
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gebrochen wurde.
    Chin Yuens Truppe aus Luftschiffmatrosen und Marineinfanteristen hatte sich erneut aus der britischen Falle befreien können. Sie wurden nach Norden getrieben und mehrfach landeinwärts gezwungen. Ihr einziges Glück war, dass die Royal Navy nicht genügend Luftschiffe zur Verfügung hatte, um sie zu Tode zu hetzen. Die Brände in Mogadischu hatten die Flotte erheblich dezimiert, und Verstärkungen mussten erst herangeführt werden.
    Im gesamten Trupp sprach nur ein einziger Matrose Englisch – Chin Ping, der aber nicht mit Chin Yuen verwandt war. Er war klein, wie die meisten Chinesen, und seine gesteppte blaue Uniform war an mehreren Stellen zerrissen, geflickt worden und mit Dreck überzogen, bis er sich wie ein weicher, wandelbarer Fleck in jeden Hintergrund einpasste. Seine Augen besaßen aber immer noch die mitternächtliche Klarheit, die Boas bei diesen Menschen als typisch erkannt hatte.
    »Er dich fragen«, sagte Chin Ping. Er bezog sich immer auf Chin Yuen. Englische Pronomen waren für den Matrosen ein zu fremdes Konzept, und es schien, dass die Funktion ganzer Wortarten nur daraus bestand, sich auf den Kommandanten oder Boas selbst zu beziehen.
    Der Messingmann saß im Schatten eines Dornbuschs. Die Sonne warf bereits lange Schatten, und seiner verschmolz mit dem des Baums. Für die Menschen war die Luft immer noch unerträglich heiß. Staub hatte sich in seinen Gelenken angesammelt, seinem Körper Schaden zugefügt und zuweilen seine Sicht getrübt. Sie befanden sich in relativer Sicherheit; kein Engländer konnte sich dem felsigen Hochland, in dem sie Zuflucht gefunden hatten, nähern, ohne nicht schon aus weiter Ferne entdeckt zu werden.
    Wenigstens bereitete ihm der Wassermangel weniger Probleme als den Menschen.
    »Was will er von mir wissen?«, fragte Boas schließlich, denn Chin Ping schien eine Antwort von ihm zu erwarten.
    »Er dich fragen Richtung finden.«
    »Jeder Punkt auf dem Kompass ist bekannt.« Boas konnte von seinem Sitzplatz aus drei Viertel des Horizontumfangs erfassen. »Ebenso alle möglichen Richtungen.«
    »Ah …« Chin Ping versuchte es erneut. Er brachte mehrere kurze chinesische Silben hervor, deren Betonung weder ein Schimpfwort noch eine aus Verzweiflung geborene Resignation erkennen ließen. Dann fügte er auf Englisch hinzu: »Weg. Zu großem Wasser. Feuer machen kann helfen.«
    »Die Briten treiben uns immer weiter landeinwärts.«
    Chin Ping nickte energisch. »Jetzt Zeit, jetzt Zeit.«
    »Ein Rendezvous.«
    Boas starrte in Richtung Osten, wo sich am Horizont ein schwaches Glitzern der Meeresoberfläche abzeichnete. Der dünne Strich der Erdumlaufschiene schillerte klar und deutlich am Himmel. Die Mauer zeichnete sich im Süden ab und erhob sich wie Frauenhände in den …
    Unzulässiger Gedanke.
    Boas zwang sich aufzuhören. Einige Erinnerungen waren zu schwierig. Sie schmerzten ihn nicht, denn er war kein Affe, dem schäumenden Taumel der Emotionen hilflos ausgesetzt. Sie waren vielmehr schwierig. Paolina hatte einer Invasionsarmee gleich seinen Willen bezwungen und Boas sich selbst geschenkt.
    »Sprich«, sagte Chin Ping. Seine Finger berührten Boas’ Unterarm und glitten über die detailreich modellierten Messingbeinschienen. »Sprich, hm, dann keine Probleme mehr.«
    »Keine Probleme mehr«, wiederholte Boas. Er stand auf und kümmerte sich nicht darum, dass aufmerksame Augen die von seinem Körper reflektierten letzten Sonnenstrahlen bemerken könnten. »Ihr müsst bald zum Meer zurückkehren und dabei den Briten aus dem Weg gehen.«
    Merkwürdigerweise rief diese hohe, verkümmerte Ebene Erinnerungen in ihm wach. Afrika hatte seine Geheimnisse, genau wie die Mauer. Über beide wusste Boas nur verschwindend wenig, doch sein bruchstückhaftes Wissen war der einzige Trumpf, den die Chinesen noch spielen konnten, um sich ihre Freiheit zurückzuerkämpfen.
    Später führten sie ihr mühseliges Gespräch an einem glimmenden Lagerfeuer weiter. An Chin Pings Lippen hingen zwei Dutzend ängstliche Augenpaare. Sie hatten bisher sieben ihrer Kameraden einäschern müssen, und zwei verwundete Soldaten würden den nächsten Tag wohl nicht mehr erleben.
    »Brauchen hohen Ort«, sagte Chin Ping zu ihm. »Hoher Ort nahe am großen Wasser, hm.«
    »Für das Signalfeuer«, sagte Boas. »Zu einem festgelegten Zeitpunkt.«
    Ching Ping nickte energisch. Seine Schiffskameraden starrten ihn wie Wölfe an.
    »Wir setzen Kurs Nordnordost«, intonierte Boas und deutete
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