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Die Räder der Zeit: Roman (German Edition)

Die Räder der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Die Räder der Zeit: Roman (German Edition)
Autoren: Jay Lake
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stand im Türrahmen. Sie mochten es nicht, in die Bibliothek hinabzusteigen, die nach Schimmel stank und nach Tausenden Tonnen verrottenden Papiers, die im Brackwasser unter ihnen gefangen waren. Stattdessen blieben sie in dem teilweise restaurierten Palast, der sich auf dem Felsgrat oberhalb der Stadt befand, und duellierten sich mit Weidenzweigen oder womit Höflinge in einem solchen Exil sich sonst immer die Zeit vertrieben.
    »Ja?« Da auf Höflichkeit seit geraumer Zeit verzichtet wurde, hielt er es auch nicht mehr für nötig, die korrekte Form der Anrede zu wählen. Dieser Narr in seinem bunten Seidenkleidchen mochte in Beijing vielleicht seinen Kopf gefordert haben, aber hier waren es der Katalogisierer und seine Forscher, die das Notwendige erledigten.
    »Der Kô hat euch zu sich beordert; er wird euch nun empfangen.«
    Wang bemühte sich nicht einmal, sich zu beeilen, sondern rollte die Schriftrolle in aller Ruhe zusammen und versah sie mit einem hellblauen Band, dem Nachweis, dass er sie eigenhändig kontrolliert hatte. Er stand auf und ließ seinen Blick gelangweilt durch den Raum schweifen, obwohl seine Schuhe offensichtlich neben der Tür standen.
    Shiao, das war der Name dieses Beamten. Ein bedauernswerter kleiner Emporkömmling, der die besondere Fähigkeit entwickelt hatte, dem prachtvollsten Arsch vor Ort hinterherzulaufen. Es verärgerte den Mann eindeutig, dass man ihn warten ließ.
    Wang entdeckte seine Schuhe mit übertriebener Freude, zog sie an und verbeugte sich dann vor dem Beamten Shiao. »Es wäre von Vorteil gewesen, mich nicht so lange aufzuhalten. Ich werde gnädig sein und ihren Herrn nicht über ihr saumseliges Verhalten informieren.«
    Shiao erwiderte die Verbeugung. »Wir werden uns sofort auf den Weg machen und beten, dass der Kô keinen Anstoß an ihrer rücksichtslosen Langsamkeit genommen hat.«
    Sie verließen den Raum einer nach dem anderen, und ihre weichen Lederschuhe quietschten leicht auf dem schmutzigen Fußboden. Nur die wenigsten der Forscher sahen überhaupt auf. Fast alle gehörten zu dem intelligenten Typ Einfaltspinsel, der zwar eine einzige Aufgabe perfekt erledigen konnte, doch den aufrechten Gang nur mit Mühe beherrschte.
    Katalogisierer Wang hasste sie alle und alles an diesem versunkenen Inselkönigreich, abgesehen von den Büchern. Er hatte die grässliche Vorahnung, dass ihm selbst diese Freude auf Anordnung seiner Vorgesetzten bald genommen werden könnte.
    Der Weg war nicht sonderlich lang, obwohl die üblichen bissigen Höflichkeiten zwischen Katalogisierer Wang und dem Beamten Shiao ausblieben. Bald schon hatten sie die Stufen erreicht, die zu Kôs Palast hinaufführten und von einem zahnlosen Kuli mit einem Besen aus zusammengebundenem Stroh gefegt wurden. Zweifellos waren der alte Mann und sein Arbeitsgerät allein für diese Aufgabe aus dem fernen China hierher gebracht worden.
    Shiao schenkte dem Kuli genauso viel Beachtung wie einem zerbrochenen Karren am Straßenrand. Wang lächelte dem alten Mann aus reiner Gehässigkeit zu. Dann folgte er dem Beamten durch rot lackierte Türflügel, die auch aus China eingeführt worden waren, hinein in eine dunkle Halle, die nach Weihrauch, klammer Seide und Eis roch.
    Eis? , dachte Wang.
    Dann fand er sich von den Mandarinen am Hofe umgeben, die er in der Regel mied. Sie trugen ihre standesgemäße Kleidung, die aus vielen kräftigen Farbschichten bestand – Rot und Schwarz und Gold und Scharlachrot –, und jeder von ihnen trug seinen flachen Hut und farbige Steine, die den jeweiligen Rang darstellten. Schweigsame Bedienstete ersetzten Wangs Schuhe durch Seidenpantoffeln, rollten seine Ärmel auf und drückten ihm einen kräftigen Tee in die Hand, damit er sicher sein konnte, nicht mit übel riechendem Atem an den Kô heranzutreten.
    Das war ihm durchaus vertraut. Der Kô empfing seine Gäste, als ob er sich immer noch im heiligen Bezirk befände. Natürlich hätte sich Wang im Sommerpalast nicht einmal erlauben dürfen, um Essensreste an der Küche zu betteln, aber hier, am äußersten Rand des Kaiserreichs, wurde er beinahe mit der Würde eines bescheidenen Dieners einer fremden Macht behandelt.
    Als Glocken geschlagen wurden und Weihrauch mit einem Schwung im Raum verbreitet wurde, trat er durch einen Brokatvorhang dem Kô entgegen. Selbst Beamter Shiao blieb zurück.
    Für einen Mann, dem Zeremonien und Tradition so viel zu bedeuten schienen, wirkte der Kô selbst wie ein sehr einfacher Mann. Er hatte ein
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