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Die Rache

Die Rache

Titel: Die Rache
Autoren: John T. Lescroart
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erwischen, flackerte das Lächeln wieder auf. Hardy beschlich das Gefühl, daß Ingraham seit langer Zeit mit keiner Menschenseele mehr gesprochen hatte.
    »Ja, ich habe dieses ehrwürdige Amt noch inne.« Rusty machte eine Pause. »Obwohl man mich in meiner Korrespondenz nur selten ›Esquire‹ nennt und ich, wie du siehst …« – er wies auf seine Kleidung –, »zur Zeit nicht praktiziere.« Wieder trank er. Wie ein Gewohnheitstrinker, dachte Hardy, aber ohne Gier, nicht wie ein Alkoholiker. Es gibt einen Unterschied, und den kannte Hardy gut.
    »Du machst das hier den ganzen Tag?« fragte Rusty.
    Hardys Augen schweiften durch den Raum und über die Einrichtung. »Seit neun Jahren jetzt. Ein Viertel der Kneipe gehört mir.«
    »Das ist großartig. Und du bist noch mit Jane zusammen?«
    »Nun, wir haben uns scheiden lassen, aber wir sind dabei, es noch mal zu versuchen.« Hardy zuckte mit den Schultern. »Ich bin zuversichtlich, aber vorsichtig.«
    »Ja, das warst du immer.«
    »Und wie steht’s mit dir? Ich habe gesehen, daß du mit dem Bus gekommen bist.«
    Für einen Augenblick trafen sich ihre Blicke, dann erlosch die Flamme in Rustys Lächeln. »Mir ist vor einem Monat das Auto gestohlen worden. Es ist noch immer verschwunden. Ein ziemlicher Ärger. Also verbringe ich einen Haufen Zeit damit, auf den N-Bus zu warten, als wäre er Godot.«
    Das gefiel Hardy. Der N-Bus, der hinter dem Shamrock entlang fuhr, war für seine notorische Verspätung bekannt.
    »Und den Rest siehst du ja, Diz – ich hänge durch. Ich wohne auf einem Lastkahn, unten im China Basin. Alle ein bis zwei Monate bekomme ich einen Notfall, setze dann und wann auf ein gutes Pferd. Ich habe noch immer einen ordentlichen Anzug. Ich putze meine Schuhe, und für ein, zwei Tage komme ich durch.« Er setzte das Glas ab und fragte, ob er Hardy einen ausgeben könne, dann legte er einen Zehn-Dollar-Schein auf den Tresen. Hardy schenkte ihnen beiden nach. Den Schein nahm er nicht.
    »Übrigens, Diz, bin ich aus einem bestimmten Grund gekommen. Erinnerst du dich an Louis Baker?«
    Hardy runzelte die Stirn. Er erinnerte sich an Louis Baker. »Acht Jahre, verlängert auf dreizehn?«
    »Neuneinhalb kamen im Endeffekt raus.«
    »Neuneinhalb«, wiederholte Hardy. »Kaum der Mühe wert.«
    »Weniger als kaum«, sagte Rusty.
    Hardy nahm einen Schluck von seinem Bier, setzte das Glas ab und fluchte. »Ich muß gut hundert Kerle hinter Gitter geschickt haben. Und du auch«, sagte er.
    Ingraham nickte. »Insgesamt habe ich zweihundertvierzehn Arschlöcher aus dem Verkehr gezogen.«
    Hardy pfiff durch die Zähne. »Du warst ganz schön scharf, was?«
    »Ja. Aber es gab nur einen Louis Baker.«
     
    Baker war schon während der ersten zwanzig Jahre seines Lebens ein Geschwür in Hunter’s Point gewesen. Er hatte einen großen Kopf, einen wohlfrisierten Afro-Schnitt und die Statur eines Bodyguards. Obwohl sein Sündenregister von kleinen Anfängen als Teenager – Vandalismus, Autodiebstahl, Einbruch und Straßenraub – bis zu schweren Delikten als Erwachsener reichte, war er davon überzeugt, nie in wirklich ernsthafte Schwierigkeiten geraten zu können. Und das nicht ohne Grund.
    Die Staatsanwaltschaft mußte zwei Verfahren gegen ihn wegen Mordes und vier wegen Vergewaltigung einstellen. Er war ein Meister darin, keine Beweise zu hinterlassen und Zeugen zum Schweigen zu bringen.
    Einmal stand er wegen versuchten Mordes vor Gericht, weil er mit dem Messer auf einen Mann losgegangen war, der in einem Bus der Linie 7/11 zu lange mit seiner Freundin geredet hatte. Am Ende weigerte sich der Mann, ihn zu identifizieren. Er ging den ganzen Weg bis zum Zeugenstand, dann sah er zu Baker auf der Anklagebank und überlegte wohl, daß er nicht lange genug leben würde, um seine Enkelkinder kennenzulernen, wenn er mit dem Finger auf Baker zeigen würde. Also wußte er plötzlich nicht mehr genau, ob Baker wirklich der Mann war, der ihm am hellen Nachmittag die Ohren abgeschnitten und das Messer in den Bauch gerammt hatte. Hardy war der Vertreter der Anklage.
    Am Ende hatte die Staatsanwaltschaft – diesmal Rusty Ingraham – ihn aber doch drangekriegt und seine erste Verurteilung bewirkt, wegen bewaffneten Raubes in vier Fällen. Doch das bedeutete, daß er in den Augen der Justiz nicht als Schwerverbrecher, sondern als resozialisierbar galt. Der Richter ließ Milde walten und gab ihm acht Jahre. Als das Urteil verkündet wurde, senkte Baker gelassen für einen Moment
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