Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Rache der Engel

Die Rache der Engel

Titel: Die Rache der Engel
Autoren: Javier Sierra
Vom Netzwerk:
mikrotopografischen Profile von jedem einzelnen Riss, die spektografischen Analysen und sogar die Videodatei, die jedes Eindringen in den Stein dokumentierte. Auf den ersten Blick schien alles in bester Ordnung zu sein, und deshalb begann ich in aller Ruhe und zufrieden meine Schutzausrüstung abzulegen und alles zusammenzupacken. Ich musste dringend eine ordentliche Dusche nehmen, meine Haut eincremen, etwas Warmes essen und etwas lesen, das mich ablenkte.
    Das hatte ich mir verdient.
    Aber das Schicksal ist uns immer einen Schritt voraus, und just in dieser Nacht hielt es etwas für mich bereit, womit ich niemals gerechnet hätte. Etwas… Gewaltiges.
    Als ich gerade die Leuchten an meiner Kopflampe ausgeschaltet hatte und den Helm absetzte, erschrak ich wegen einer ungewöhnlichen Unruhe am anderen Ende der Kirche. Ich hatte das Gefühl, als wäre die Atmosphäre plötzlich mit statischer Elektrizität aufgeladen. Das gesamte Kirchenschiff– mit seinen 96 Metern Länge und seiner Empore hinter den zweiteiligen Bogenfenstern– schien aus irgendeinem Grund in Bewegung zu geraten. Mein Gehirn bemühte sich, rational an die Sache heranzugehen. Eigentlich glaubte ich nur ein schnelles Aufleuchten bemerkt zu haben. Ein flüchtiges Funkeln. Lautlos. Einen Schimmer, der fast auf Bodenhöhe entstand und harmlos wirkte und der anscheinend auf das Querschiff zusteuerte, etwa zehn oder zwölf Meter von meinem Standpunkt entfernt.
    ›Ich bin nicht allein‹, war mein erster Gedanke. Ich spürte, wie mein Puls zu rasen begann.
    » Hallo! Ist da jemand?«
    Doch nur das Echo reagierte auf meine Worte.
    » Hören Sie mich? Ist hier jemand? Hallo!… Hallo!«
    Schweigen.
    Ich versuchte Ruhe zu bewahren. Ich kannte die Kathedrale wie meine Westentasche. Ich wusste, wohin ich im Notfall laufen musste. Außerdem hatte ich mein Handy bei mir und auch die Schlüssel zu einer der Türen, die auf die Plaza del Obradoiro vor der Westfassade führten. Mir konnte gar nichts passieren. Ich redete mir ein, dass ich womöglich durch den Kontrast zwischen dem beleuchteten Bereich der Werkstatt und dem Halbdunkel, in das die restliche Kathedrale gehüllt war, einem Irrtum erlegen war. Manchmal führen schwankende Lichtverhältnisse ja zu solchen Täuschungen. Aber ich war nicht sonderlich überzeugt. Das war keine Lichtspiegelung im üblichen Sinn. Aber auch kein Insekt. Und auch nicht die Flamme einer Kerze, die umkippt und zu Boden fällt.
    » Hallo!… Hallo!«
    Schweigen war nach wie vor die einzige Antwort.
    Ich fragte mich, ob ich die Notrufnummer wählen sollte, während meine Hand in meiner Tasche zitternd nach dem Handy suchte. War alles nur Einbildung? Oder handelte es sich um eine umherirrende Seele?
    Den letzten Gedanken verwarf ich sogleich wegen seiner Absurdität.
    Um meine Aufregung unter Kontrolle zu bekommen, griff ich nach meinem Anorak, der Tasche und der Kopflampe und ging in die Richtung, in der ich meinte, das Licht gesehen zu haben. » Die Gespenster verschwinden, sobald du dich ihnen stellst«, rief ich mir in Erinnerung. Zitternd vor Furcht betrat ich das südliche Seitenschiff und lief in Richtung des Querschiffes. Ich betete, dass sich niemand dort aufhielt. Als ich angekommen war– Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir–, ging ich zielstrebig in Richtung der Puerta de Platerías, des südlichen Tors, das zu dieser Zeit selbstverständlich längst verschlossen war.
    Da sah ich ihn.
    Das heißt, fast wäre ich mit ihm zusammengestoßen.
    Und obwohl ich ihn so nah vor mir hatte, zweifelte ich noch.
    » Mein Gott!«
    Der Mann verbarg sein Gesicht, er war in eine schwarze Kutte gehüllt wie ein Mönch, und er schien in etwas zu wühlen, das er gerade unter dem einzigen modernen Kunstwerk der Kathedrale abgelegt hatte: unter der Skulptur von Jesús León Vázquez, die den campus stellae darstellt, also das Sternenfeld, das Santiago de Compostela der Volksetymologie nach seinen Namen gegeben hat. Gott sei Dank verhielt er sich eher zurückhaltend als aggressiv, so als wäre er gerade erst in dem Gotteshaus angekommen und wüsste nicht so recht, wo er sich eigentlich befand.
    Jetzt weiß ich, dass ich hätte weglaufen und die Polizei benachrichtigen sollen, aber mein Instinkt, oder vielleicht auch die Tatsache, dass sich unsere Blicke in allerletzter Sekunde kreuzten, veranlasste mich ihn anzusprechen.
    » Was machen Sie hier?«
    Keine Antwort.
    » Haben Sie mich nicht verstanden? Wer hat Ihnen erlaubt, sich in der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher