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Die Rache der Engel

Die Rache der Engel

Titel: Die Rache der Engel
Autoren: Javier Sierra
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wusste ich, dass ich kurz vor der Lösung des Rätsels stand, warum sich der Zustand eines der weltweit bedeutendsten Skulpturenensembles zunehmend verschlechterte– eines Monuments, das die Menschen seit Generationen berührt und sie an ein anderes, besseres Leben gemahnt hat. Was sollte da der Allerseelentag für eine Bedeutung haben? Aber eigentlich war es ein mehr als passender Zufall. Die Figuren, die ich untersuchen wollte, empfangen nun schon seit Jahrhunderten die Pilger des Jakobsweges, der ältesten und am meisten begangenen Wallfahrtsroute in Europa; sie bestärken die Pilger in ihrem Glauben und erinnern sie daran, dass mit dem Überschreiten dieser Schwelle ihr sündiges Leben endet und ein anderes, erhabeneres Leben beginnt. Deshalb heißt dieser Eingang auch Pórtico de la Gloria, Tor der Herrlichkeit. Die mehr als 200 Figuren des dort dargestellten Weltgerichts waren tatsächlich unsterblich. Eine Schar, der die Zeit und die Ängste der Menschen fern lagen. Und trotzdem nahmen sie seit dem Jahr 2000 durch eine merkwürdige Krankheit Schaden. Jesaja und Daniel beispielsweise blätterten ab, und einige der musizierenden Ältesten, die den oberen Abschluss bilden, drohten abzustürzen, wenn wir es nicht verhinderten. Engel mit Trompeten, Figuren aus der Schöpfungsgeschichte, Sünder und Verdammte waren besorgniserregend schwarz geworden. Vom unaufhaltsamen Farbverlust des gesamten Ensembles ganz zu schweigen.
    Seit der Zeit der Kreuzzüge war niemand diesen Figuren so nahe gekommen und hatte sie so intensiv untersucht wie ich. Die Stiftung Barrié de la Maza ging davon aus, dass die Figuren unter der Feuchtigkeit oder unter Bakterien litten, aber ich war mir da nicht so sicher. Deshalb machte ich Überstunden, denn so konnten mich keine Touristen bei der Arbeit beobachten oder Pilger bemäkeln, dass wir das Meisterwerk des Jakobswegs hinter Gerüsten versteckten, durch die man kaum hindurchsehen konnte; und natürlich konnten auch keine anderen Fachleute meine Ideen infrage stellen.
    Aber ich hatte noch einen weiteren Grund.
    Ein Grund, der meines Erachtens sehr gewichtig war und der mir nur Scherereien bereitet hatte.
    Ich wusste– genauer gesagt, ich ahnte es–, dass nicht Flechten und Säuren den Stein beschädigten, sondern weniger weltliche Ursachen. Ich war die Einzige im Team, die in der Nähe aufgewachsen war, in einem Ort an der Costa da Morte, der Todesküste, mit ihren traditionellen Vorstellungen, und im Gegensatz zu meinen Kollegen hielt mich meine wissenschaftliche Ausbildung nicht davon ab, auch unkonventionelle Alternativen zu erwägen. Jedes Mal, wenn ich darauf einging und auf Tellurismus, Erdkräfte oder Strahlungen zu sprechen kam, fielen meine Kollegen über mich her und lachten mich aus. » Dafür gibt es keine wissenschaftlichen Belege«, murrten sie. Glücklicherweise stand ich mit meiner Auffassung nicht allein da. Der Dekan dieser Kathedrale unterstützte mich. Der Pater war ein mürrischer alter Mann, den ich im Gegensatz zu meinen Kollegen verehrte. Alle nannten ihn Padre Fornés. Ich mochte seinen Taufnamen, Benigno, lieber. Ich denke, mich amüsierte der Widerspruch zwischen dem Namen– der Gütige– und dem Charakter des Dekans. Aber er war tatsächlich derjenige, der mich stest gegenüber der Stiftung verteidigte und mich ermutigte, weiterzumachen.
    » Früher oder später«, sagte er immer wieder, » wirst du sie aus ihrem Irrtum befreien.«
    ›Ja, irgendwann‹, dachte ich dann bei mir.
    Zwanzig Minuten vor Mitternacht, nachdem ich bereits geraume Zeit das Endoskop in jeden einzelnen der neun Risse eingeführt hatte, die von unserem Team dokumentiert worden waren, verkündete der kleine Computer mit hohen Pieptönen, dass er die ersten Daten zu dem Rechner übertrug, den ich in der Nähe des Pórtico aufgestellt hatte. Ich seufzte erleichtert auf. Wenn alles nach Plan verlief, würde die mineralogische Abteilung der Fakultät für Geowissenschaften der Universität von Santiago de Compostela am nächsten Tag meine Daten verarbeiten, und 36 Stunden später könnten wir die ersten Ergebnisse diskutieren.
    Erschöpft, aber erwartungsvoll, befreite ich mich von meinen Seilen, um mich zu vergewissern, dass die Datenübermittlung wie vorgesehen ablief. Ich konnte mir keinen Fehler leisten. Die 5 - TB -Festplatte schnurrte wie ein zufriedenes Kätzchen und erfüllte den Raum mit einem Surren, das mich fröhlich stimmte. Schließlich landeten in dem Computer so die
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