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Die Quelle

Die Quelle

Titel: Die Quelle
Autoren: Larissa Cosentino
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Geschehnisse in Italien.
Ein Blick zu ihrer Mutter reichte, um zu erkennen, dass sie beide denselben
Gedanken hatten. Sie beherrschte ihre Furcht und entschied sich dafür, auf
dem Parkplatz eines Supermarktes stehen zu bleiben. Der Unterboden ihres Autos
setzte kurz auf, als sie zu schnell über den Absatz der Einfahrt fuhr,
doch sie nahm es kaum wahr. Sandras Hände klammerten sich hilfesuchend an
das Lenkrad und zitterten leicht, als sie ihrer Mutter nachsah, wie sie rasch
aus dem Wagen stieg und die hintere Tür neben Lisa aufriss. Veronika
beugte sich zu Lisa, nahm sie bei den Schultern und schüttelte sie laut
schreiend.
    „Lisa! Komm zu dir!“
    Den vorwurfsvollen, neugierigen Blick einer älteren
Dame, die ihren leeren Einkaufswagen in Richtung des Haupteinganges des
Supermarktes schob, nahm Sandra kaum wahr. Ihre Aufmerksamkeit galt nur ihrer
Tochter und ihrer Mutter.
     
    Lisa erwachte aus ihrer Trance. Ihre Augen waren noch
immer glasig und sie konnte ihren Blick nicht klar fokussieren. Nur
verschwommen erkannte sie das verängstigte Gesicht ihrer Großmutter.
Ihre wirren Gedanken kreisten noch immer um Giorgio. Er konnte ihr helfen. Sie
wandte sich unvermittelt ihrer Mutter zu.
    „Du musst ihn finden!“
    Sandra runzelte verwirrt die Stirn. „Wen meinst du?“
    „Meinen Vater. Du musst ihn finden.“, schoss es aus Lisa
heraus, ohne dass sie selbst wusste, was genau sie da sagte.
     
    Das war das Thema, das ihre Mutter Jahre intensiver
Therapie gekostet hatte und Lisa wusste es. All die Jahre war sie mit den
Schwierigkeiten, die sie mit ihrer Mutter hatte, so beschäftigt gewesen,
dass sie nie auch nur daran gedacht hatte, nach ihrem Vater zu fragen.
Instinktiv hatte sie das Tabuthema Italien nie angesprochen, doch nun musste es
sein, auch wenn ihre Mutter sie verkrampft und ängstlich ansah, auch wenn
sie um Fassung rang. Sandra klang bemüht ruhig, doch ein leichtes Zittern
in ihrer Stimme verriet ihren Gemütszustand.
    „Warum jetzt? Was hat dein Vater mit deinen
Italienischkenntnissen zu tun?“
    Lisa wusste darauf keine Antwort, doch was sie wusste
war, wie sie die Ängste ihrer Mutter für sich nutzen konnte. Lisa
bemühte sich während sie sprach, Härte in ihren Blick zu legen.
    „Es ist mein Recht, ihn kennen zu lernen!“
    „Aber wieso?“ Sandra wirkte, als würde sie gleich in
Tränen ausbrechen und Lisa wusste, wie nah sie ihrem Ziel gekommen war.
    „Du hast ihn mir gestohlen, du musst ihn mir
zurückbringen.“
    Lisa sah, wie Sandras Gesicht erblasste und sich die
Härchen auf ihrem Unterarm aufstellten, als wäre die Temperatur im
Auto plötzlich gesunken. Sie erkannte diese Vorzeichen, die sie in
unzähligen Familientherapiesitzungen schon gesehen hatte. Sie wusste, sie
war zu weit gegangen.
    „Nein…“, hörte sie ihre Großmutter in
weinerlichem Tonfall noch sagen, ehe ihre Mutter von Schüttelfrost erfasst
wurde. Lisa blieb plötzlich der Atem weg. Nicht weil sie einmal mehr
Zeugin eines Anfalls ihrer Mutter war, sondern weil sie diesmal Teil davon
wurde. Sie war nicht länger nur sie selbst, sondern zugleich auch ihre
Mutter und ihre Großmutter. Sie konnte erfassen, was jeder von ihnen
spürte, sie teilte Zorn, Sorgen, Schmerzen und Ängste… So einnehmend
waren diese Gefühle, dass sie kaum noch wusste, welche die ihren waren.
    Etwas Eisiges floss durch ihren Körper hindurch,
nistete sich in ihrem Magen ein… Ein Schmerz durchfuhr sie, als stünde sie
unter Strom, ihr ganzer Körper verkrampfte sich… Dunkelheit verschleierte
ihren Blick; das Echo eines entsetzlichen Schreis erklang, nistete sich in ihre
Seele ein und ließ sie nicht mehr los… Plötzlich
übertönten ihn laute, befreiende Klänge, sie brachten den Schrei
zum Verstummen und verklangen schließlich mit ihm…
    „Sandra, mein Schätzchen, komm zu dir!“, hörte
sie sich sagen, doch das war nicht ihre Stimme, das waren nicht ihre Worte und
nicht ihre hoffnungslosen Gedanken. Nicht sie fühlte sich alt und
ausgelaugt… Nicht sie war es… Lisa zwang sich ihre Augen zu öffnen. Sie
sah ihre Großmutter, die wieder auf dem Beifahrersitz saß und
sorgenvoll Sandras Hand tätschelte. In Sandras Gesicht war wieder etwas
Farbe zurückgekehrt, doch nun war es Lisa, die entsetzt erblasste, denn
sie ahnte, es war wirklich geschehen, was sie empfunden hatte. Lisa stockte der
Atem… Sie hätte weinen oder schreien wollen, doch stattdessen saß
sie nur mit weit aufgerissenen Augen auf ihrem Sitz und achtete auf
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