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Die Quelle

Die Quelle

Titel: Die Quelle
Autoren: Larissa Cosentino
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daran dachte… doch das wäre für heute zu viel
gewesen… Jetzt musste sie die Klänge um sie herum nur als Störfaktor
abtun und sich auf das Gespräch mit ihrer Mutter vorbereiten. Sie ahnte
schon, wie ihr Gesicht aussehen würde, in dem Augenblick, da sie durch die
Tür kommen würde. Graue Haut, eingefallene Wangen, schwarze
Ränder unter den Augen… Sie würde ihre Mutter nur ansehen
müssen, um sie in die Flucht zu treiben. Es kam ihr vor, als geschähe
es bereits. Das Thema Italien war einmal mehr eröffnet und ihre Mutter
würde sie ansehen, als sei alles ihre Schuld gewesen, obwohl es vor ihrer
Geburt passiert war. Mit ein wenig Glück würde ihre Mutter
zusammenbrechen, noch ehe das Gespräch eskalieren konnte. Um ihre
Großmutter Veronika machte sich Lisa weitaus mehr Sorgen. Einmal mehr
würde sie sich darum kümmern müssen, ihre Familie
zusammenzuhalten.
    Lisa sprang auf, noch ehe die Tür sich geöffnet
hatte. Ihre Mutter trat als erste aus dem Klassenzimmer. Sie wirkte blass und
kränklich. Nur kurz sah sie mit vor Angst geweiteten Augen zu Lisa, zuckte
zusammen und eilte fluchtartig davon… Lisa fröstelte, denn was sie gerade
erlebt hatte, entsprach zu genau dem, was sie sich vor wenigen Augenblicken
vorgestellt hatte…
    „Lass uns nach Hause fahren, Lisa.“ Veronika hatte sie
kaum angesehen, zu eilig hatte sie es, ihre Tochter einzuholen. Lisa blieb noch
einen Moment lang neben Irene stehen und sah angewidert ihrer Mutter hinterher.
Es war also so gekommen, wie sie es vorausgesehen hatte. War das so
erstaunlich? Die Reaktion ihrer Mutter zu erraten, war keine schwere Aufgabe!
Lisa konnte ihre Verachtung für sie nicht aus ihrem Blick bannen, erst als
Irene ihr einen Schubs mit dem Ellenbogen verpasste, zuckte sie zusammen und
sah Irene vorwurfsvoll an.
    „Was soll das?“
    „Reiß dich zusammen!“
    „Warum ich? Soll sie sich doch mal zusammenreißen!“
    *
    Lisa saß stumm auf der Rückbank des Autos.
Ihre Mutter widmete sich allein dem Fahren und überließ es Veronika
auf Lisa einzureden, die jedoch teilnahmslos vor sich hin starrte und nichts
von alldem mitbekam. Sie war gefangen in wirren Gedanken, in Erinnerungen, die
sie nicht zuordnen konnte… Waren es überhaupt ihre Erinnerungen? Sie
passten doch gar nicht in ihr Leben! War sie denn im Begriff den Verstand zu
verlieren? Hatte sie Wahnvorstellungen? Ihr Kopf drohte zu platzen, als
wütete ein Orkan in ihrem Gehirn...
    Wäre doch nur Giorgio da, um sie festzuhalten, um ihr
zu sagen, was sie tun musste! Aus dem Gefühl der Verzweiflung wurde
plötzlich Zorn. Zorn gegen ihre Mutter, die ihn verjagt hatte... Sie
musste ihn jetzt zurückholen! Wenn Giorgio erst wieder da war, würde
sie keine Albträume mehr haben, keine Visionen mehr... aber wer war
Giorgio? Sie kannte doch niemanden mit diesem Namen! Wie kam sie dann
überhaupt auf diese absurden Ideen? Weshalb empfand sie dabei wieder Zorn
gegen ihre Mutter? Warum fiel es ihr immer so schwer, ihre Nähe zu
ertragen, ohne dabei Wut zu verspüren? Ihre konfusen Gedankengänge
verstummten allmählich, von einer Stimme unterbrochen, die sie rief. Erst
klang diese Stimme nur ganz leise, als käme sie aus der Ferne, doch sie
wurde immer deutlicher.
     
    Veronika hatte schließlich ihre Rede mit einer
Frage beendet, um endlich ihrer Enkelin eine Reaktion zu entlocken. Als Lisa
abermals nicht antwortete, drehte sie sich in einem leichten Anflug von
Ungeduld um. Sie sah Lisa auf dem Rücksitz des Wagens sitzen und mit
leerem Blick vor sich hin starren. Hatte sie ihr überhaupt zugehört?
Ihre Stimme klang sogar in ihren Ohren etwas zu schrill, als sie ihrem Unmut
nachgab.
    „Lisa, hast du mich verstanden?“
    Auch nachdem sie zum zweiten Mal ihre Frage stellte,
bekam Veronika keine Antwort. Lisa war anscheinend meilenweit entfernt. Sie
rief ihren Namen, mehrfach, doch noch immer zeigte sie keinerlei Reaktion.
Veronikas Ärger verflüchtigte sich, als Angst über ihren
Rücken kroch. Was war nur mit ihrer Enkelin los?
     
    Sandra hatte versucht sich nur auf das Fahren zu
konzentrieren. Der abendliche Stadtverkehr erforderte ihre volle
Aufmerksamkeit, doch als sie die Angst in der Stimme ihrer Mutter hörte,
sah sie in den Rückblickspiegel, um sich selbst ein Bild von ihrer Tochter
zu machen. Was sie zu sehen bekam, war unheimlich, denn es sah nicht so aus,
als würde Lisa mit Absicht Stille bewahren. Sandra erschauderte. Lisas
Verhalten erinnerte sie zu sehr an sich selbst, an die
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