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Zeit der Raubtiere

Zeit der Raubtiere

Titel: Zeit der Raubtiere
Autoren: Liza Klaussmann
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    Nick
    September 1945
    O b das nun ein Segen oder ein Fluch ist?«, sagte Helena.
    »Auf jeden Fall ist es mal was anderes«, meinte Nick. »Keine verdammten Lebensmittelmarken mehr, und wir müssen nicht mehr überallhin mit dem Bus fahren. Hughes hat einen Buick gekauft, halleluja!«
    »Weiß Gott, woher er den hat«, sagte Helena. »Wahrscheinlich von einem, der alte Autos billig aufpeppt.«
    »Auch egal.« Nick reckte die Arme träge in den nächtlichen Himmel Neuenglands.
    Sie saßen im Garten ihres Hauses in der Elm Street. Sie trugen Unterröcke und tranken unverdünnten Gin aus alten Marmeladengläsern. Es war der heißeste Spätsommer in Cambridge seit Menschengedenken.
    Nick sah zum Plattenspieler hinüber, der gefährlich schief im Fenster stand. Die Nadel war hängengeblieben.
    »Bei dieser Hitze kann man wirklich nichts anderes tun als trinken«, sagte sie und lehnte den Kopf an den rostigen Gartenstuhl. Unaufhörlich wiederholte Louis Armstrong, dass er das Recht habe, den Blues zu singen. »Wenn ich in Florida bin, muss Hughes mir als Allererstes einen ganzen Packen gute Nadeln kaufen.«
    »Ach, dieser Mann …« Helena seufzte.
    »Ich weiß«, sagte Nick. »Er sieht einfach verboten gut aus. Und ein Buick und richtig gute Nadeln. Mehr kann eine Frau nicht verlangen.«
    Helena kicherte in ihr Glas hinein. Dann richtete sie sich auf. »Ich glaube, ich bin betrunken.«
    Nick knallte ihr Glas so heftig auf die Armlehne des Gartenstuhls, dass das Metall vibrierte. »Jetzt wird getanzt!«
    Die Eiche schnitt den Mond in Stücke, und der Himmel hatte trotz der Wärme schon die Farbe tiefer Mitternacht. Es duftete noch immer so sehr nach Sommer, als wüsste das Gras nicht, dass es schon Mitte September war. Die Frau aus dem dreistöckigen Mietshaus nebenan teilte ihrem aktuellen Liebhaber deutlich hörbar ihre nächtlichen Gedanken mit.
    Nick betrachtete Helena, während sie mit ihr übers Gras wirbelte. Helena hätte auch so eine Frau werden können mit ihrem Körper, der an ein glänzendes Cello erinnerte, und ihren Kriegsliebschaften. Aber die Cousine hatte sich ihre Frische erhalten, ihre rotblonde Lockenpracht und die glatte Haut. Sie war nicht verblasst wie die Frauen, die einmal zu oft einen fremden Mann in ihr Bett gelassen hatten, der dann von einer Mine in die Luft gejagt oder von einer MP 40 durchsiebt wurde. Nick hatte solche Frauen gesehen; sie welkten in den Schlangen vor der Bezugsscheinausgabe dahin oder schleppten sich aus dem Postamt, immer in Gefahr, zu einem Nichts dahinzuschwinden.
    Helena dagegen war kurz davor, wieder zu heiraten.
    »Du heiratest noch mal!«, rief Nick beschwipst, als wäre es ihr gerade eingefallen.
    »Ja – ist es zu glauben?« Helena seufzte. Nick spürte ihre warme Hand am Rücken. »Mrs. Avery Lewis. Klingt das ebenso gut wie Mrs. Charles Fenner?«
    »Es klingt wundervoll«, log Nick. Sie wirbelte Helena ein letztes Mal herum und ließ sie los.
    Der Name Avery Lewis klang in ihren Ohren genau nach dem, was der Mann war – nach einem belanglosen Versicherungsvertreter, der es unbedingt in Hollywood schaffen wollte und ständig davon schwafelte, er sei mal mit Lana Turner oder wem auch immer zusammen gewesen. »Fen hätte ihn bestimmt gemocht.«
    »O nein, Fen hätte ihn gehasst. Fen war ein kleiner Junge. Ein süßer kleiner Junge.«
    »Der liebe Fen.«
    »Der liebe Fen.« Helena hörte auf zu tanzen und ging zum Stuhl zurück, auf dem ihr Ginglas wartete. »Aber jetzt habe ich ja Avery.« Sie trank einen Schluck. »Und ich ziehe nach Hollywood und kriege vielleicht ein Baby. Dann werde ich jedenfalls keine verschrobene alte Jungfer mit Warzen auf der Nase, die als fünftes Rad vor dem Kamin neben dir und Hughes endet. Alles, nur nicht das!«
    »Kein fünftes Rad, keine Warzen und obendrein auch noch einen Avery Lewis!«
    »Ja, jetzt hat jede von uns was Eigenes. Das ist wichtig«, sagte Helena nachdenklich. »Ich weiß nur nicht …«
    »Was denn?« Nick ließ das Eis gegen die Zähne krachen.
    »Na, ob es mit Avery genauso wird. Genauso wie mit Fen …«
    »Im Bett, meinst du?« Nick warf den Kopf herum und sah ihre Cousine an. »Ich fasse es nicht! Hat die jungfräuliche Helena tatsächlich von Geschlechtsverkehr gesprochen?«
    »Du bist gemein«, sagte Helena.
    »Ich weiß.«
    »Ich bin betrunken. Aber ich frage mich das wirklich. Fen ist der einzige Junge, den ich je geliebt habe – vor Avery, meine ich. Aber Avery ist ein Mann.«
    »Also, wenn
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