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Die Poison Diaries

Die Poison Diaries

Titel: Die Poison Diaries
Autoren: Maryrose Wood
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getigerten Katze geschlungen.
    Erschöpft sinke ich auf der Schafweide neben dem Pfad zu Boden. Ich lege mich auf den Rücken, fest gegen die Erde gedrückt, und fühle die Feuchtigkeit des Grases in den Stoff meiner Kleidung dringen.
    Über mir, hoch an dem kalten blauen Himmel, bewegt sich ein schwarzer Punkt, erst in die eine Richtung, dann in die andere, wobei er ausgedehnte, genau zu erkennende Zickzacklinien beschreibt, mit denen er sich der Erde nähert. Er wird größer, bekommt Flügel, dann eine Stimme.
    Es ist ein Rabe, und sein Krächzen ist wie ein höhnisches Echo meines eigenen trockenen Schluchzens. Er lässt sich auf dem Zaunpfahl neben dem Pfad nieder, etwa zehn Schritte den Hügel hinauf von der Stelle entfernt, wo ich liege. Stolz breitet er seine mächtigen schwarzen Schwingen aus. Wenn sie ganz geöffnet sind, ist die Spannweite beinahe so groß wie die meiner ausgebreiteten Arme. Der schlanke Kopf glänzt schillernd, wie Fischschuppen.
    Ich stütze mich auf die Ellbogen. Als Antwort auf meine Bewegung legt der Vogel den Kopf schräg, so dass ich sein lebloses Auge bewundern kann, das wie eine schwarze Perle seitlich in seinen Schädel eingesetzt ist. Wieder ertönt dieser Schrei – ein rauer, entsetzlicher, gnadenloser Schrei.
    Kraaaaaaaaaaaaaaaaaaaaah!
    Die Schafe blöken vor Angst und trippeln davon. Der Rabe kauert sich nieder, um gleich darauf in die Höhe zu springen. Er hat sich ein Ziel ausgesucht, ein Opfer erwählt – ein Lamm, das sich zu weit von der Herde entfernt hat …
    Wie der Blitz bin ich auf den Beinen, einen Stein in der Hand. Mit aller Kraft schleudere ich ihn auf den Raben. Ich ziele zu niedrig, und der Stein trifft den Pfosten mit einem scharfen Knall. Der Vogel schlägt überrascht und schwerfällig mit den Flügeln und reckt die hageren, drahtigen Beine. Er dreht den Kopf und schaut mich geradewegs an.
    Ich werfe einen zweiten Stein. Diesmal treffe ich den Vogel mitten auf die schwarze, ölig glänzende Brust.
    KRAAAAAAAAAAAAAAAAAH !
    Der Rabe kreischt vor Zorn auf und erhebt sich in die Luft, beschreibt einen Kreis und fliegt dicht über meinen Kopf hinweg. Ich lasse mich zu Boden fallen und rolle mich zusammen, ziehe den Schal über mein Gesicht.
    Los, du böser Vogel
, denke ich,
hacke mir die Augen aus, wenn du kannst. Sogar blind würde ich dich bei der Kehle packen und nie mehr loslassen. Ich bin jetzt rücksichtslos und voller Wut, und es kümmert mich nicht, was aus mir wird.
    Als ob er meine Gedanken gehört hätte, zieht sich der Rabe zurück, immer noch laut kreischend, bis seine zornige Stimme sich im weiten Himmel verliert.
    Langsam richte ich mich wieder auf und schaue mich um. Die Schafe starren mich an. Ihre klaren, fast menschlichen Augen sind feucht vor Dankbarkeit.
    Ich zittere. Mir ist kalt und ich bin müde, und meine Knie werden weich vor der Erleichterung, die einen überkommt, wenn die Gefahr vorüber ist.
    Das Lamm ist gerettet. Vorläufig. Ich aber nicht.
    Schließlich lasse ich all die Angst und den Kummer in mein Herz ein, und noch einmal fallen meine Tränen zu Boden.
Ich bin leichte Beute
, denke ich,
ein mutterloses Lamm, allein in der Welt. Ohne Herde, ohne ein grünes, fruchtbares Land, das ich Heimat nennen darf. Und über mir kreisen die Raben.
    Ich habe keine Wahl. Ich muss umkehren.
    ***
    Während meiner wilden Jagd hatten Verzweiflung und Trauer jegliches Gefühl für Zeit und Entfernung ausgelöscht. Aber jetzt, auf dem Rückweg, nehmen die Zeiger der Uhr mit bösartiger Langsamkeit ihre Tätigkeit wieder auf. Die Scham beschwert meine Schritte, und es dauert ganze drei Stunden, bis ich Hulne Abbey wieder erreiche. Während der letzten, quälend langsam vergehenden Stunde bin ich gezwungen, mir meinen Weg durch nachtschwarze Dunkelheit zu ertasten, denn natürlich habe ich auch keine Laterne dabei. Zweimal falle ich. Meine Handflächen sind aufgerissen und blutig von den spitzen Steinen auf dem Pfad.
    Leichte Beute
, flüstert mir meine Angst bei jedem Schritt zu.
Vergiss nie, was du bist.
    Das Haus ist dunkel und kalt, als ich endlich über die Schwelle trete. Im Kamin des Salons glimmen nur noch ein paar kümmerliche, verkohlte Reste inmitten der Asche. Wenn es ein Abendessen gegeben hat, habe ich es verpasst, aber da niemand etwas gekocht oder ihn zum Essen gerufen hat, ist Vater möglicherweise noch immer bei der Arbeit, liest und murmelt hin und wieder vor sich hin, ohne die Ereignisse der Welt außerhalb seines
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