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Die Pinabriefe

Titel: Die Pinabriefe
Autoren: Martin Baltscheit
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Kopf.
       »Warum nicht!«, schreit Henrietta. Eigentlich ist es gar nicht ihre Art, fremde Hausmeister anzuschreien, vor allem wo der Franz doch gar nicht fremd ist.
       »Ich will meine Puppe wiederhaben! Gib mir meine Puppe wieder. Warum gehen alle immer, ohne auf Wiedersehen zu sagen?!«
       Ein Fenster öffnet sich. Es ist die dicke Nachbarin aus der Wohnung unter Henrietta. Sie kennt Henrietta gut, weil sie auf sie aufpasst, wenn die Mama spät von der Arbeit kommt.
       »Herrje, was ist denn da los?«
       »Meine Puppe ist weg!«
       »Deine Puppe? Wo ist denn die Mama?«
       »Weiß ich nicht, auch weg!«
       »Und dein Papa?«
       Das war die falsche Frage, jetzt heult Henrietta noch lauter. Das mit dem Papa hatte die Nachbarin vergessen.
       »Der ist auch weg!«, schreit Henrietta. »Und der schwarze Mann hier weiß auch nicht, wo Pina ist!«
       »Schwarzer Mann? Warte, ich komme runter!«
       Die dicke Nachbarin kommt völlig außer Atem in den Hof und sieht Franz, wie er auf seinen krummen Beinen neben dem Mädchen steht und ihr beim Weinen zusieht.
       »Ach Franz! Was stehen Sie denn herum? Helfen Sie doch suchen!«
       Franz, dessen Gesicht ganz schwarz ist vom Reparieren der Heizung, geht sofort los. Aber Henrietta weint weiter: »Ich hab schon überall gesucht! Sie ist weg! Wir haben oben auf dem Balkon gesessen und Picknick gemacht, ich bin zum Kühlschrank, Schokolade holen, und dann war sie weg... bestimmt ist sie in die Mülltonne gefallen und die hat sie gefressen!«
       »Na, na, na! Hast du denn überall gekuckt?«, fragt die Nachbarin.
       »Ja!!!«, ruft Henrietta und schluchzt fürchterlich.
       Nach einer Weile kommt Franz aus einem der Büsche gehumpelt. Er hält einen Zettel in der Hand.
       »Was haben Sie denn da?«, fragt die dicke Nachbarin. Henrietta hört auf zu weinen. Franz gibt ihr den Zettel.
       »Da steht ja was drauf!«, sagt die dicke Nachbarin, faltet das karierte Blatt auseinander und liest vor:

    »Wieso weiß Pina meinen Namen nicht mehr?« Henrietta schnieft und wischt sich die Tränen aus den Augen. Die Nachbarin sieht den Hausmeister an, aber der zuckt mit den Schultern.
    »Keine Ahnung, vielleicht hatte sie es eilig«, sagt die Nachbarin. »Auf jeden Fall geht es ihr gut!«
       Henrietta seufzt: »Vielleicht schreibt sie ja nochmal.«
       »Ja, vielleicht...«, sagt die Nachbarin und als sie Franz den Hausmeister ansieht, zuckt der schon wieder mit den Schultern.
       »Na komm, Henrietta, gehen wir noch was zu mir, Kakao trinken!«
       Henrietta nickt, sie geht gerne zur Nachbarin Kakao trinken. Vor allem an Tagen wie diesem. Da ist Kakao oft die einzige Rettung. Die dicke Nachbarin nimmt Henrictta an die Hand und zwinkert dem Hausmeister zu. Der bleibt zurück und sieht den beiden nach. Dann holt er einen Block mit kariertem Papier samt Bleistift aus der Hosentasche und schreibt sich auf: Henrietta!
    Er kratzt sich am Kopf und humpelt fort.

    Am Abend erzählt Henrietta ihrer Mama nichts vom Verschwinden der Puppe, denn Pina war ein Geschenk von Oma, und teuer war sie auch, und Henriettas Mama ist nach der Arbeit oft so müde und kaputt, dass es besser ist, »ein braves Mädchen« zu sein.
       »Gute Nacht, Mami, ich geh schlafen! Ach herrje, bin ich müde!«, sagt Henrietta und gähnt so breit wie eine Mülltonne.
       Aber dann liegt sie im Bett und starrt an die Decke. Natürlich kann sie nicht schlafen, denn wer kann schon schlafen, wenn die beste Freundin auf Reisen geht und sich nicht einmal verabschiedet.

2. KAPITEL, IN DEM EINE PUPPE INS REGENBOGENLAND FLIEGT
    Henrietta wacht auf und entdeckt das rote Geschirr neben ihrem Bett. Mama hat ihr Tee und Brote hingestellt. Das macht sie immer, wenn sie früh aus dem Haus geht, und sie geht immer öfter früh aus dem Haus, weil sie Geld verdienen muss, um die große Wohnung zu »halten«.
       Was wohl passiert, wenn sie die Wohnung »loslassen« würde, denkt Henrietta. Ob sie dann durch die anderen Etagen nach unten in den Keller kracht? Das wäre ein eigenartiger Anblick, alle Wohnungen im Keller, nur die oberste schwebt in der Luft und die Mieter müssten sich an Seilen hinauf- und hinunterhangeln.

    Wenn Henrietta das rote Geschirr sieht, freut sie sich, Frühstück am Bett! Aber heute ist es anders. Keinen Hunger, denkt sie. Vielleicht ist Pina schon zurück von ihrer Reise! Ich muss sie suchen gehen! Was hat Papa immer gesagt?
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