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Die Pforte

Die Pforte

Titel: Die Pforte
Autoren: Patrick Lee
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Augen.
    Er war an den Stamm einer Kiefer neben ihr gefesselt und konnte sich ebenfalls nicht bewegen. Sein Kopf war von einer Art Gehäuse umschlossen, das ihn daran hinderte, den Blick abzuwenden, und ihn zwang, sie direkt anzuschauen.
    Die Tränen liefen ihr seitlich am Gesicht hinab. Seine schimmerten ihm in den Augen, blieben aber unvergossen.
    Dann trat der Mann hinter sie, außerhalb ihres Blickfelds, und traf Vorbereitungen für die nächste Marter, ganz wie jedes Mal bisher. Was er genau tat, konnte sie selbst nie sehen, doch die mimische Reaktion ihres Vaters gab ihr das Schauspiel besser wieder, als es ein Spiegel vermocht hätte.
    Selbstverständlich konnte sie es sich ausmalen. Was sich hier abspielte, hätte ihr nicht deutlicher vor Augen stehen können. Beim allerersten Mal – als Rattengesicht sie am Tisch festgeschnallt hatte, vor etwa drei Tagen – hatte er ihr den Oberarm mit einem Skalpellaufgeschlitzt und ihren Trizeps mit einer Klammer weit auseinandergedehnt. Natürlich hatte er darauf geachtet, die Arterie nicht zu verletzen; schließlich sollte der Tod sie auf keinen Fall so bald erlösen. Sein eigentliches Ziel war der Radialnerv gewesen, ungefähr so dick wie ein Bleistift, nachdem er ihn aus seiner Markscheide neben dem Knochen gelöst hatte. Seither hatte er jedes Mal ungehinderten Zugriff darauf.
    Genau dafür traf er nun unter viel Aufhebens seine Vorbereitungen. Das gehörte zur Folter dazu, keine Frage. Es sollte sie psychisch zermürben, all die akustischen Signale, und sie schon mal auf den Schmerz einstimmen: der Reißverschluss seines Instrumentenbeutels, der langsam geöffnet wurde, das bedauernde Zungenschnalzen, als täte es ihm selbst leid, das tun zu müssen, und dann das Seufzen.
    Jetzt bewegte ihr Vater seine Augen, weil Rattengesicht ihn anschaute, bevor er anfing.
    «Was für ein Papa Sie sein, hm?», sagte er in seinem gebrochenen, seltsam poetischen Englisch. «Wie Sie sich später je wieder in Spiegel anschauen können? Wie Sie können zulassen, dass Ihrem kleinen Mädchen so lange wird wehgetan?»
    Dann das schrille, abgehackte Lachen, wie das Keckern eines Eichhörnchens.
    Der Blick ihres Vaters verhärtete sich und kehrte von dem Mann wieder zu ihr zurück, und jetzt liefen ihm die Tränen am Gesicht hinab.
    Auch dies gehörte offensichtlich zur Folter dazu: Sie mussten einander in die Augen schauen, während ihr Peiniger sie quälte. Bei manchen Menschen mochte das funktionieren, aber in ihrem Fall hatte man sich gründlichverrechnet. Denn es waren einzig die Augen ihres Vaters, die ihr halfen, das durchzustehen.
    Sinn und Zweck des Blickkontakts war natürlich nicht seine Wirkung auf sie. Dieser Blickkontakt sollte ihn mürbe machen, ihn wollten sie dadurch zum Reden bringen.
    Ging ihre Rechnung auf? Wurde er langsam mürbe?
    Nein, völlig ausgeschlossen. Wozu hatte sie all das über sich ergehen lassen, wenn er am Ende feige nachgab?
    O nein, dazu war er viel zu stark. Davon war Paige überzeugt. Ihr Vater wusste, was auf dem Spiel stand, und dagegen verblasste diese Lichtung und alles, was man ihnen noch antun mochte. Diesen Leuten zu verraten, wie sie das Flüstern aktivieren konnten, kam als Option einfach nicht in Frage. Ende, aus, basta.
    Sie blinzelte unter Tränen und bemühte sich, stark zu wirken, um ihn zu beruhigen. Es war alles in Ordnung. Wirklich, alles in Ordnung, auch wenn sie so heftig zitterte und eine solche Scheißangst hatte wie jetzt, während sie hören konnte, wie Rattengesicht in seinem Beutel kramte und sein Instrument herausholte, worauf ihr noch mehr Tränen in die Augen schossen, weil es nun jeden Moment losgehen würde. Selbst jetzt noch musste sie ihm die Kraft vermitteln, sich das wortlos anzusehen, weil es so viel schlimmer wäre, denen zu liefern, worauf sie aus waren –
    Das Instrument ließ ein unangenehmes Surren vernehmen, als es angeschaltet wurde, und gleich darauf schlossen sich seine Zähnchen um den freigelegten Nerv. Sie schrie wie von Sinnen, und das Bild ihres Vaters verschwamm und löste sich auf wie ein Spiegelbild auf einer Wasseroberfläche, die in Bewegung versetzt wurde.
     
    Travis drückte sich platt auf den Felsvorsprung und versuchte, den alten Killerinstinkt in sich zu wecken. Es war viele Jahre her, dass er ihm einmal gefolgt war, und eigentlich hatte er damit für alle Zeiten abgeschlossen.
    Bis jetzt.
    Durch das Fernglas beobachtete er, wie der Mann mit dem dünnen Schnurrbärtchen das Instrument im
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