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Die Pforte

Die Pforte

Titel: Die Pforte
Autoren: Patrick Lee
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angewiesen, wenn sie bloß dazu in der Lage gewesen wäre, ihren Kopf ein wenig zu bewegen. Ihn von der Tischplatte zu heben und dann mit voller Wucht dagegenzuschlagen, sich den Schädel am Hinterkopf zu zerschmettern und etwas in ihrem Hirn zu beschädigen, egal was. Drei oder vier kräftige Schläge, ehe der Mann mit dem Rattengesicht sie aufhalten könnte, dann wäre sie erlöst.
    Warum war das zu viel verlangt? Warum war es ein unerfüllbarer Traum, endlich ein Ende machen zu können?
    Weil der Mann mit dem Rattengesicht sein Handwerk verstand. Deswegen. Weil ihr Kopf mit Riemen unbeweglich an der Tischplatte fixiert war, wie ihr gesamter übrigerKörper. Sogar ihre Zunge war mit einer Klammer an ihre Zähne geklemmt, damit sie sie nicht durchbeißen konnte und an ihrem eigenen Blut erstickte.
    Also versuchte sie, stattdessen in Wachträume abzudriften. Ein wahres Wundermittel, wenn es klappte. Dann gab es auf einmal keinen Schmerz mehr, keine Riemen, keine Lichtung im eisigen Tageslicht, das niemals endete. Die Orte in ihren Träumen waren vertraut und sicher. Beim ersten Mal war es die Leseecke in ihrem Wohnzimmer gewesen. Gelesen hatte sie dort im Traum nichts, war bloß barfuß über die Steinfliesen gelaufen und hatte mit der Hand über den weichen Bezug des Sessels gestrichen.
    Beim zweiten Mal war sie in Carmel am Strand gewesen und hatte ihre Finger in den warmen Sand gegraben, bis hinab zu jener Schicht, wo er angenehm kühl war. Sie war jahrelang nicht mehr dort gewesen, aber die Erinnerung daran stand ihr in dem Traum gestochen scharf vor Augen.
    Es gab nur selten Gelegenheit, davonzudriften. Das ging nur, wenn die Wirkung der Injektion nachließ, in den letzten fünf oder zehn Minuten, ehe sie die nächste Spritze bekam. Sie musste aufpassen, sich nicht erwischen zu lassen, sonst würden sie anfangen, ihr das Mittel früher zu injizieren. Sie durfte die Augen nicht schließen, sosehr ihr das den Weg ins Reich der Träume auch erleichtert hätte. Sie musste mit offenen Augen dorthin gelangen, aber das war in Ordnung. Zweimal war es ihr schließlich bereits gelungen.
    Zu den Kiefern hochzustarren anstatt in den Himmel, half dabei. Das Licht war dann nicht ganz so grell, es war ein bisschen so, als würde sie die Augen halb schließen.
    Diesmal aber klappte es nicht, sie wurde zu stark abgelenkt. Rattengesicht und einer der anderen führten ganz in der Nähe ein erregtes Gespräch, redeten in ihrer Sprache rasend schnell aufeinander ein. Früher einmal hatte Paige den Klang dieser Sprache geliebt, hatte mit dem Gedanken gespielt, sie im Nebenfach zu studieren, für zwei Semester ins Ausland zu gehen, um sie vor Ort zu lernen. Als ihr diese Möglichkeit dann durch ihre Studienwahl verbaut wurde, war sie monatelang traurig deswegen. Wenn sie jetzt, überlegte sie, einen großen roten Knopf vor sich gehabt hätte, mit dem jedem Mann, jeder Frau und jedem Kind auf der Welt, die diese Sprache benutzten, wie von Zauberhand die Zunge aus dem Mund gerissen würde, würde sie so fest daraufschlagen, dass sie sich die Hand dabei verletzte.
    Wäre ihre Hand nur nicht an diesem verfluchten Dreckstisch festgeschnallt.
    Die Unterredung war beendet, und da ließen sich auch schon wieder Rattengesichts Schritte vernehmen. Jetzt gab es wieder eine Spritze. Also kein Entkommen mehr ins Reich der Träume.
    Und jetzt kamen ihr auch wieder die Tränen, schon vor der Injektion und bevor der Schmerz wieder anfing. Es machte sie zornig, dass sie dagegen völlig machtlos war, dass sie diesen Leuten so gar nichts entgegenzusetzen hatte.
    Ihr Körper zuckte, als die Nadel die Haut neben ihrem Nabel berührte. Dann spürte sie ein Piksen, und obwohl die Wirkung erst in einigen Minuten einsetzen würde, konnte sie spüren, wie das Mittel sich kalt und scharf unter ihrer Bauchdecke ausbreitete.
    Die Kiefern verschwammen ihr vor den Augen, ihr Körper zitterte heftig. Der Knebel vor ihrem Mund, der ihre Schreie dämpfen sollte – die hier im Gebirge ungewöhnlich weit hätten zu hören sein können   –, verhinderte nicht, dass sie ihre eigene Stimme hörte, die um Gnade flehte und unentwegt das Wort «nein» wiederholte. Auch dagegen war sie machtlos.
    Jetzt ratterte die Kurbel unter dem Tisch, kippte die Platte seitlich hoch, bis sie nahezu senkrecht war und ihr Körper nicht mehr lag, sondern nur noch von den Riemen an Ort und Stelle gehalten wurde.
    Nun schaute sie nach vorn anstatt nach oben. Schaute ihrem Vater direkt in die
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