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Die Perle

Die Perle

Titel: Die Perle
Autoren: Jack London
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unter. Er hielt die Luft an und klammerte sich verzweifelt an das Seil. Das Wasser verlief sich und im Schutz des Stammes konnte er wieder atmen. Er knotete das Seil fester und schon begrub ihn eine weitere See unter sich. Eine der Frauen glitt herunter und gesellte sich zu ihm, während der Eingeborene bei der anderen Frau, den beiden Kindern und der Katze blieb.
    Der Frachtmeister hatte bemerkt, wie die Gruppen, die sich am Fuß der Bäume festhielten, sich mehr und mehr lichteten. Jetzt konnte er aus erster Hand beurteilen, warum das geschah. Es erforderte all seine Kraft, sich festzuhalten. Die Frau, die zu ihm gekommen war, wurde schwächer. Immer, wenn er wieder aus einer See auftauchte, war er überrascht, dass er noch da war, und noch überraschter, dass die Frau noch da war. Als er wieder einmal hochkam, merkte er, dass er allein war. Er sah nach oben. Die Krone der Palme war ebenfalls verschwunden. In der Hälfte der ursprünglichen Höhe vibrierte ihr zersplittertes Ende. Er war in Sicherheit. Die Wurzeln hielten noch, und der Teil des Baumes, der dem Wind eine Angriffsfläche bot, war abgeschert. Er begann hinaufzuklettern. Er war so schwach, dass er nur langsam vorankam, und Woge über Woge ging über ihn hinweg, bevor er endlich hoch genug oben war. Dann band er sich am Stamm fest und wappnete sich für die Nacht und was ihm sonst noch bevorstehen mochte.
    Er fühlte sich sehr einsam in der Dunkelheit. Zeitweise kam es ihm so vor, als wäre das Ende der Welt gekommen und er der letzte Überlebende. Immer noch nahm der Wind zu. Stunde für Stunde nahm er zu. Als es seiner Schätzung nach elf Uhr war, hatte der Sturm unglaubliche Stärke angenommen. Er war ein schreckliches, monströses Etwas, ein kreischender Wahnsinn, eine massive Wand, die immer und immer wieder auf ihn einstürzte, um dann in der Dunkelheit zu verschwinden – eine Wand ohne Ende. Es kam ihm vor, als wäre er leicht und ätherisch geworden. Als wäre er es, der in Bewegung war. Dass er mit unfasslicher Geschwindigkeit durch eine massive Endlosigkeit getrieben wurde. Der Wind war nicht mehr einfach bewegte Luft. Er war so stofflich geworden wie Wasser oder Quecksilber. Er hatte das Gefühl, hineingreifen und Stücke davon herausreißen zu können wie Fleisch aus dem Kadaver eines Ochsen. Dass er den Wind packen und sich daran festhalten konnte wie ein Mann, der sich an die Kante einer Klippe klammert.
    Der Wind schnitt ihm die Luft ab. Er konnte ihm nicht die Stirn bieten und gleichzeitig atmen, denn er brauste ihm durch Mund und Nase und blähte seine Lunge auf wie einen Ballon. In solchen Momenten fühlte er sich, als wäre sein Körper angeschwollen und vollgestopft mit fester Erde. Nur wenn er seine Lippen gegen den Stamm des Baumes presste, konnte er atmen. Und der unaufhörliche Ansturm des Windes erschöpfte ihn. Körper und Geist wurden müde. Er beobachtete nicht länger, dachte nicht länger und war nur mehr halb bei Bewusstsein. Sein Bewusstsein bestand aus einem einzigen Gedanken: DAS ALSO IST EIN HURRIKAN. Dieser eine Gedanke kam und ging in unregelmäßigen Abständen. Er war wie eine schwache Flamme, die von Zeit zu Zeit aufflackerte. Aus dem Zustand der Betäubung kehrte er zu ihm zurück – DAS ALSO IST EIN HURRIKAN. Dann verfiel er wieder in den Dämmerszustand.
    Der Höhepunkt des Hurrikans dauerte von elf Uhr nachts bis drei Uhr morgens, und es war gerade Elf, als der Baum, in dem sich Mapuhi und seine Frauen festklammerten abbrach. Als Mapuhi an der Oberfläche der Lagune auftauchte, hielt er immer noch seine Tochter Ngakura umklammert. Nur ein Südseeinsulaner konnte in einer derartigen peitschenden Gischt überleben. Der Pandanusbaum, an dem er sich festhielt, drehte sich ständig in der schäumenden See um die eigene Achse; nur, indem er sich manchmal festhielt und abwartete, und ein anderes Mal sich hastig herumhangelte schaffte er es, seinen und Ngakuras Kopf in genügend kurzen Abständen über die Oberfläche zu bringen, so dass sie nicht ertranken. Aber die Luft bestand hauptsächlich aus Wasser, aus fliegender Gischt und undurchdringlichem Regen, der parallel zur Oberfläche der Lagune heranschoss.
    Es waren zehn Meilen über die Lagune bis zur anderen Seite des Rings aus Sand. Hier töteten die zum Spielball der Wellen gewordene Baumstämme, Balken, Wracks von Kuttern und Trümmer von Häusern neun von zehn der jämmerlichen Gestalten, die die Durchquerung der Lagune überlebt hatten. Halb ertrunken und
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