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Die Perle

Die Perle

Titel: Die Perle
Autoren: Jack London
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weiter vom Land weg. Eine halbe Stunde verstrich und der Hai wurde dreister. Da er keine Gefahr in ihr sah, kam er in immer enger werdenden Kreisen näher und betrachtete sie im Vorbeigleiten mit unverfrorenem Blick. Früher oder später, das war ihr klar, würde er genügend Mut gesammelt haben, um sie anzugreifen. Sie entschloss sich, nicht darauf zu warten. Es war eine Verzweiflungstat, die sie da plante. Sie war eine alte Frau, einsam im Ozean und erschöpft von Hunger und Mühsal. Und dennoch musste sie im Angesicht dieses Tigers der See seinen Angriff vorwegnehmen, indem sie ihn selbst angriff. Sie schwamm weiter und wartete auf ihre Chance. Endlich glitt er träge vorbei, kaum mehr als zwei Meter entfernt. Unvermittelt ging sie auf ihn los und tat so, als wollte sie ihn angreifen. Er schlug wild mit dem Schwanz und schoss davon. Seine sandpapierartige Haut erwischte sie und schürfte ihr die Haut vom Ellbogen bis zur Schulter ab. Er schwamm schnell in einem größer werdenden Kreis und verschwand schließlich.
    In einem Loch im Sand, gedeckt mit Resten von Blechdächern, lagen Mapuhi und Tefara und stritten sich.
    »Wenn du getan hättest, was ich dir gesagt habe,« warf ihm Tefara zum tausendsten Mal vor, »und die Perle versteckt und keinem was davon gesagt hättest, dann hättest du sie noch.«
    »Aber Huru-Huru war dabei, als ich die Muschel geöffnet habe – habe ich dir das nicht schon tausend und abertausend Mal gesagt?«
    »Und nun werden wir kein Haus haben. Raoul hat mir heute gesagt, wenn du die Perle nicht an Toriki verkauft hättest –«
    »Ich habe sie nicht verkauft. Toriki hat mich beraubt.«
    »– wenn du die Perle nicht verkauft hättest, würde er dir fünftausend französische Dollar geben, und das sind zehntausend Chile-Dollar.«
    »Er hat mit seiner Mutter gesprochen,« erklärte Mapuhi. »Sie hat einen Blick für Perlen.«
    »Und jetzt ist die Perle verloren,« beklagte sich Tefara.
    »Ich habe meine Schulden bei Toriki damit bezahlt. Also habe ich immerhin zwölfhundert verdient.«
    »Toriki ist tot,« jammerte sie. »Sein Schoner ist spurlos verschwunden. Er ist zusammen mit der Aorai und der Hira untergegangen. Wird dir Toriki die versprochenen Dreihundert in Waren bezahlen? Nein, denn Toriki ist tot. Und wenn du keine Perle gefunden hättest, würdest du heute Toriki die Zwölfhundert schulden? Nein, denn Toriki ist tot und tote Männer kann man nicht bezahlen.«
    »Aber Levy hat Toriki nicht bezahlt,« sagte Mapuhi. »Er hat ihm ein Stück Papier gegeben, das in Papeete gut für Geld war. Und jetzt ist Levy tot und kann nicht bezahlen. Und Toriki ist tot und das Papier ist mit ihm verloren und die Perle ist mit Levy untergegangen. Du hast recht, Tefara. Ich habe die Perle verloren und nichts dafür erhalten. Jetzt lass uns schlafen.«
    Plötzlich hob er die Hand und lauschte. Von draußen kam ein Laut wie von schwerem und gequältem Atmen. Eine Hand tastete nach der Matte, die als Tür diente.
    »Wer ist da?« rief Mapuhi.
    »Nauri,« lautete die Antwort. »Kannst du mir sagen, wo mein Sohn ist? Mapuhi?«
    Tefara schrie auf und packte Mapuhis Arm.
    »Ein Geist!« sagte sie mit klappernden Zähnen. »Ein Geist!«
    Mapuhis Gesicht hatte sich zu einem ungesunden Gelb verfärbt. Er klammerte sich schwach an seine Frau.
    »Gute Frau,« sagte er stammelnd, bemüht, seine Stimme zu verstellen, »ich kenne deinen Sohn gut. Er wohnt auf der Ostseite der Lagune.«
    Von draußen kam ein seufzender Laut. Mapuhi fühlte sich beschwingt. Er hatte den Geist genarrt.
    »Aber woher kommst du denn, alte Frau?« fragte er.
    »Aus dem Meer,« kam die niedergeschlagene Antwort.
    »Ich wusste es, ich wusste es!« kreischte Tefara und wiegte sich vor und zurück.
    »Seit wann schläft Tefara in einem fremden Haus?« klang Nauris Stimme durch die Matte.
    Mapuhi blickte voller Furcht und Vorwurf auf seine Frau. Ihre Stimme hatte sie verraten.
    »Und seit wann verleugnet Mapuhi, mein Sohn, seine alte Mutter?« fuhr die Stimme fort.
    »Nein, nein, ich habe dich nicht – Mapuhi hat dich nicht verleugnet,« stieß er hervor. »Ich bin nicht Mapuhi. Ich sage doch, dass er am Ostende der Lagune ist.«
    Ngakura setzte sich im Bett auf und begann zu weinen. Die Matte bewegte sich.
    »Was tust du da?« wollte Mapuhi wissen.
    »Ich komme rein,« sagte Nauris Stimme.
    Ein Ende der Matte hob sich. Tefara versuchte, unter die Decke zu tauchen, aber Mapuhi hielt sich an ihr fest. Er musste sich an irgend etwas
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