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Die Perle

Die Perle

Titel: Die Perle
Autoren: Jack London
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beteten, und in einer davon predigte der mormonische Missionar. Ein seltsamer Ton drang an sein Ohr, rhythmisch, so leise wie das kaum hörbare Zirpen einer fernen Grille. Nach einem Augenblick war er wieder verstummt, aber während er andauerte hatte Raoul unbestimmt an himmlische Sphärenklänge denken müssen. Er blickte um sich und sah am Fuße eines weiteren Baums eine große Gruppe von Menschen, die sich an Seilen und aneinander festklammerten. Er konnte erkennen, dass es in ihren Gesichtern arbeitete und ihre Lippen sich im Gleichklang bewegten. Obwohl ihn kein Ton mehr erreichte, wusste er, dass sie Choräle sangen.
    Und immer noch wurde der Wind stärker. Er hatte kein Maß mehr dafür, denn dieser Wind übertraf alles, was er bisher erlebt hatte; aber trotzdem wusste er, irgendwie, dass es noch stärker brauste. Nicht weit entfernt wurde ein Baum entwurzelt und schleuderte seine menschliche Last zu Boden. Eine See flutete über den Sandstreifen, und dann waren sie verschwunden. Alles geschah sehr schnell. Er sah eine braune Schulter und einen schwarzen Schädel sich gegen die weißschäumende Lagune abzeichnen. Im nächsten Augenblick waren auch die verschluckt. Weitere Bäume knickten ab und fielen kreuz und quer wie Streichhölzer. Die Gewalt des Sturmes bestürzte ihn. Sein eigener Baum schwankte bedenklich. Die eine Frau schrie klagend auf und umklammerte das kleine Mädchen, das seinerseits die Katze festhielt. Der Mann, der das andere Kind hielt, berührte Raoul am Arm und deutete. Er folgte seinem Blick und sah, wie die mormonische Kirche sich dreißig Meter weiter wie betrunken zur Seite neigte. Sie war aus ihrem Fundament gerissen worden und Wind und Meer hoben und schoben sie auf die Lagune zu. Eine furchterregende Welle packte sie, kippte sie um und warf sie gegen ein halbes Dutzend Kokospalmen. Die Trauben menschlicher Früchte fielen wie reife Kokosnüsse. Als die Welle sich wieder zurückzog, legte sie sie wie Treibgut auf dem Sand ab, einige reglos, andere sich windend und zappelnd. Auf seltsame Weise erinnerten sie ihn an Ameisen. Er war jenseits des Entsetzens angelangt. Mit ziemlicher Selbstverständlichkeit nahm er zur Kenntnis, wie die folgende Welle den Sand vom menschlichen Strandgut frei schwemmte. Eine dritte Welle, noch ungeheurer als alle, die er zuvor gesehen hatte, riss die Kirche in die Lagune, wo sie halb untergetaucht mit dem Wind ins Nichts davon trieb wie eine Arche Noah.
    Er sah nach Captain Lynchs Haus und stellte überrascht fest, dass es verschwunden war. Die Ereignisse überschlugen sich. Er bemerkte, dass viele Leute aus den Bäumen, die noch standen, hinuntergeklettert waren. Der Sturm hatte noch weiter zugenommen. Er fühlte es an dem Baum, auf dem er saß. Er schwankte nicht mehr oder neigte sich von einer Seite zur anderen. Stattdessen blieb er praktisch unbeweglich in einem festen Winkel vom Wind weggeneigt und vibrierte lediglich. Aber diese Vibrationen waren übelkeitserregend. Sie fühlten sich an wie von einer gewaltigen Stimmgabel oder der Zunge einer Maultrommel. Das Schlimmste daran war die Schnelligkeit der Vibrationen. Selbst wenn die Wurzeln hielten, konnte der Baum der Belastung nicht mehr lange standhalten. Irgendetwas musste brechen.
    Ah, da hatte einer nachgegeben. Er hatte ihn nicht abbrechen sehen, aber da stand er, nur noch ein Strunk, auf halber Höhe des Stammes abgetrennt. Man bekam nicht mit, was geschah, außer man sah gerade zufällig hin. Das Umstürzen der Bäume und die jammervollen Schreie der Verzweiflung gingen völlig unter in der ungeheuren Lautstärke des Sturms. Er blickte zufällig in Captain Lynchs Richtung, als es passierte. Er sah den Stamm des Baums auf halber Höhe lautlos splittern und abbrechen. Der Wipfel der Palme mit drei Seeleuten von der Aorai und dem alten Kapitän segelte über die Lagune davon. Er fiel nicht herunter, sondern trieb durch die Luft wie eine Handvoll Spreu. Dreißig Meter weit folgte er seinem Flug mit den Augen, bis er ins Wasser stürzte. Er kniff die Augen zusammen und war sicher, dass er Captain Lynch Lebewohl winken sah.
    Raoul wartete nicht länger. Er stieß den Eingeborenen an und bedeutete ihm, hinunterzuklettern. Der Mann schien willens dazu, aber seine Frauen waren vor Entsetzen wie gelähmt und er entschloss sich, bei ihnen zu bleiben. Raoul zog sein Seil hinter dem Stamm hindurch und ließ sich zu Boden rutschen. Ein Schwall von Meerwasser ergoss über ihn und tauchte ihn vollständig
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