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Die Pension Eva

Die Pension Eva

Titel: Die Pension Eva
Autoren: Andrea Camilleri
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mit mir reden, er will mich nicht mal ansehen. Wenn ich ihn besuche und an sein Bett trete, regt er sich jedes Mal furchtbar auf, und die Krankenschwestern werfen mich raus. Darf ich euch um einen Gefallen bitten?«
    Natürlich durfte er das.
    »Könnt ihr mal bei ihm vorbeigehen? Nur eine halbe Stunde, nach der Schule. Vielleicht erzählt er euch, wieso er mich nicht mehr leiden kann.«
    Und so besuchten sie Filippo im Krankenhaus.
    Im Spital gab es mehr Kranke und Verwundete als Betten. Manche lagen sogar auf den Treppenabsätzen. Es stank nach Medikamenten, Eiter, Urin und Kot. Die einen jammerten oder beteten, andere fluchten oder riefen nach jemandem, Mutter, Vater, Sohn oder Tochter, Mann oder Frau. Einer blökte wie ein abgestochenes Lamm, als ein Arzt ihn mit weit aufgerissenen Augen anschrie:
    »Wir haben kein Morphium mehr! Willst du das endlich in deinen Kopf kriegen? Alles, was ich noch für dich tun kann, ist, dich zu erschießen.«
    Filippo lag in einem Zimmer mit zehn Verwundeten. Sobald er die Freunde sah, streckte er glücklich die Hände nach ihnen aus, und sie hielten sich eine Weile fest in den Armen. Filippos Kopf war verbunden, man konnte nur Augen und Mund sehen. Nenè und Ciccio setzten sich zu ihm aufs Bett, es gab nicht mal einen Stuhl.
    »Diefef gehörnte Rindvief!«, sagte Filippo.
    Er hatte große Mühe, durch den Verband zu sprechen. Wer konnte dieses Rindviech anderes sein als derjenige, der für Filippos Zustand verantwortlich war?
    »Churchill?«, fragte Ciccio.
    »Mussolini?«, wagte Nenè mit leiser Stimme zu fragen.
    »Nein!«, rief Filippo erregt. »Papà!«
    »Was hat dir Don Vincenzo denn getan?«, fragte Nenè.
    »Külkaften«, antwortete Filippo.
    Was wollte er ihnen damit sagen? Ciccio und Nenè sahen ihn ratlos an.
    »Külkaften!«, wiederholte Filippo verärgert.
    Und mit der Hand machte er eine Geste, als zöge er an einer Kordel. In dem Moment begriff Nenè: Spülkasten! Aber was hatte der Spülkasten mit Filippos Vater zu tun?
    »Meinst du Spülkasten?«, fragte Nenè. »Und wieso bist du so wütend auf deinen Vater?«
    »Weil er ihn nift refariert hat. Der fiel fon fast von der Wand, ich haf ihm gefagt, diefem gehörnten Rindvief, ich haf ihm gefagt, das Feifding fällt unf einef Tagef auf den Kopf, troffdem hat er ef nift refariert.«
    »Na gut, aber …«
    »Defhalb ift mir der Külkaften auf die Birne gefallen, als ich an der Kette gefogen hab, und hat fie fertrümmert. Fuld ist der alte Fack!«
    Er dachte also, er sei im Spital, weil ihm der Spülkasten auf den Kopf gefallen war. Offensichtlich hatte er gar nicht mitbekommen, dass Bomben auf die Stadt abgeworfen worden waren, während er auf dem Klo saß.
    »Fili, was sagst du denn da? Nichts da Spülkasten! In dem Augenblick, als du an der Kette gezogen hast, ist eine Bombe auf euer Haus gefallen!«
    Filippo riss die Augen weit auf:
    »Bombe? Meint ihr daf wirklif ernft?« Er hielt kurz inne. »If will fofort meinen Vaer fehen!«
    Eigentlich hätte man sich über diese Geschichte totlachen können, aber Ciccio und Nenè war nicht danach zumute. Schweigend verließen sie das Spital.
     
    Jeden Tag kreisten Flugzeuge über der Stadt, feuerten ein paar Schüsse ab und verschwanden dann wieder. Pünktlich gegen Mitternacht kamen sie wieder und hörten nicht vor drei, vier Uhr morgens auf, ihre Bomben abzuwerfen.
    Die meisten Leute flüchteten während der Angriffe in die Luftschutzkeller, aber dort war nicht an Schlafen zu denken. Bei jeder Kleinigkeit brach ein Streit aus, so angespannt war die Situation.
    Morgens, bevor Nenè mit dem Bus nach Montelusa zur Schule fuhr, ging er an der Pension Eva vorbei, um nachzusehen, ob sie noch stand und nicht über Nacht dem Erdboden gleichgemacht worden war.
     
    Don Stefano Jacolino eröffnete die renovierte Pension Eva am ersten Januar 1942 um acht Uhr abends.
    Genau genommen hatte es um vier Uhr nachmittags schon eine inoffizielle Eröffnung gegeben, bei der auch der Verbandsführer Colleoni und der stellvertretende Verbandsführer Agnello in Zivil anwesend waren. Die beiden hatten sich mit den dort angestellten Damen bereits befasst und waren höchst zufrieden gewesen. Eine gefiel Colleoni so gut, dass er sich gleich zweimal mit ihr vergnügte.
    Bald hatte sich in der Stadt herumgesprochen, dass man sich die Pension Eva unbedingt mit eigenen Augen anschauen musste. Alle Zimmer hatten fließendes Wasser, ein richtiges Waschbecken und ein Bidet, das Dach war zu einer großen
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