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Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit

Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit

Titel: Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit
Autoren: Patrick Bauer
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Doch in dieser Kunststunde war der große Fatih plötzlich ganz still. Er wartete, bis Herr Bimmel sich einer Farbkleckserei zugewandt hatte, beugte sich über meinen Tisch und fing an. Seine Schläge waren präzise und gleichmäßig. Als wären zehn Fausthiebe das gerechte Strafmaß für einmal »Amana sikim«. Bamm, Bamm, Bamm, Bamm, Bamm. »Fatih, bitte!« Fatih atmete beschäftigt. Bamm, Bamm, Bamm, Bamm, Bamm. Mein Oberarm glühte. Herr Bimmel musterte noch immer die Farbkleckserei, er interessierte sich für Kunst, nicht für Kinder. Noch Wochen danach spürte ich ein Ziehen in meiner Schulter. »Entschuldigung«, flüsterte Fatih, als er fertig war, »aber das darfst du nicht zu mir sagen. Das beleidigt meine Ehre.« Ich schaffte es, erst in der kleinen Pause zu heulen. Unten, in der dunklen Schultoilette im Keller, auf die ich mich sonst nie wagte. Zuhause fragte mich meine Mutter, warum ich meinen rechten Arm so merkwürdig bewege. Ich behauptete, beim Klettern auf dem Spielplatz gefallen zu sein. Was hätte ich sagen sollen? Dass Fatih mich bestrafen musste, weil ich diese geheimnisvolle Sache namens Ehre verletzt hatte, als ich aus Versehen angekündigt hatte, etwas Schlimmes mit seiner Mutter zu machen? Seit diesem Tag habe ich nie wieder »Ich ficke deine Mutter« gesagt. In keiner Sprache.
    Ich konnte auch schönere Dinge auf Türkisch sagen, nützliche Dinge. »Köpek« heißt Hund und »küme« Haufen. »Dört Kilo, ü ç Mark!«, das weiß ich noch, heißt: »Vier Kilo, drei Mark!« »Lan« bedeutet »Mensch« oder »Mann«, man kann »lan« an jeden beliebigen Satz hängen, was wir auch taten. »Wie geht’s, lan«, »Pass mal auf, lan«, »Bis morgen, lan«. »Abi« heißt Bruder und »Anne«, Mutter, hört man morgens, mittags und abends in jedem Berliner Hinterhof. Bei uns im Haus schrie ein kleines Mädchen alle zehn Minuten nach ihrer Mutter. In allen erdenklichen Varianten: »Ahhhhhne!«, »Annäh!«, »Anneeeeh!«, »Ahhhnähä!« Ich dachte lange Zeit, Anne sei der Vorname der Mutter. Wie meine Mutter eben Nicola heißt und ich die Mutter von Anton »die Ursel« nannte und die von Max »die Sabine«. Als ich dann das erste Mal bei Ahmed zu Besuch war und er »Anne« in die Küche rief, und noch etwas, das ich nicht verstand, fragte ich ihn: »Wieso haben alle türkischen Mütter den gleichen Vornamen?« Ahmed war entsetzt, dass ich überhaupt auf die Idee kommen konnte, man dürfe die eigene Mutter beim Vornamen rufen. Ich hatte es nicht anders gelernt, es war bei mir zuhause verpönt, »Mama« zu sagen. Selbst meinen Opa durfte ich nicht Opa nennen. »Ich sehe hier weit und breit keinen Opa«, schimpfte er, wenn ich es doch tat. »Deutsche sind komisch«, sagte Ahmed.
    Als Exot galt ich auch beim Fußball, in der Jugendmannschaft von Rot-Weiß Neukölln. Ich war dort der einzige Deutsche. Es war daher wichtig, zu wissen, dass »Balo« auf Türkisch Ball heißt und »Pas« – wenig überraschend – Pass. Genau genommen war ich nicht der einzige Deutsche, wir waren fast alle deutsche Staatsbürger, aber ich war der Einzige mit deutschen Eltern, einem deutschen Namen und einer deutschen Technik, also musste ich immer in der Abwehr spielen. Manchmal sogar als Libero. Eine heute vergessene Position, die einst in dunklen Fußballzeiten die Deutschen okkupiert hatten und auf der Franz Beckenbauer zu Weltruhm gekommen war. »Wo sollst du sonst spielen«, fragte Ali, der Trainer, »Deutsche können vorne nichts. Außerdem heißt du Bauer. Das ist perfekt! Klingt so ähnlich wie Beckenbauer!« Alis Vater war der vielleicht größte Fan von Franz Beckenbauer. Ohne die Aussicht, in der Nähe des Kaisers zu leben, sagte Ali mal, wäre sein Vater nie in dieses strenge Land ausgewandert. Alis Vater konnte leider nicht ahnen, dass der Kaiser auf einem Berg in Kitzbühel lebt und nur selten zu den Untertanen in den Arbeitervierteln von Berlin hinabsteigt. Nach zwanzig Jahren Schufterei in einer Kartonagenfabrik hatte die Kaisertreue des Vaters dennoch nicht nachgelassen und er beherrschte nach wie vor nur dieses eine deutsche Wort: Beckenbauer.
    Bei Auswärtsspielen gegen »echt deutsche Mannschaften«, wie Trainer Ali sie nannte, etwa in Marzahn oder Hellersdorf, am grauen Stadtrand, in den Ostbezirken, wo die Jungs Ronny hießen und die Väter Glatze trugen und die Mütter so viel rauchten, wie ihre Pitbulls bellten, wurde ich von den Gegenspielern angeglotzt wie einer, der zum Feind übergelaufen
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