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Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit

Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit

Titel: Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit
Autoren: Patrick Bauer
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bedeutet hat, dass er sich neben dem Fußballkäfig um die Jogger kümmert und dabei von ihnen nicht gestört werden will, fragt Ahmed: »Und du studierst wahrscheinlich?«
    »Ich arbeite«, sage ich.
    »Aber eine Studentenarbeit«, sagt Ahmed.
    Er schaut mich lange an. »Du findest es bestimmt ätzend, was ich hier mache, oder?« »Nein, nein«, sage ich schnell. Vielleicht hätte ich mich nicht zu erkennen geben sollen. Wie wir hier stehen, im Gestrüpp eines Stadtparks, den wir beide durchqueren, ich als joggende Studentenkartoffel, er als gelangweilter Helfer seines dealenden Bekannten, wird sehr deutlich, warum wir uns so lange nicht gesehen haben. Unsere Leben haben nichts mehr gemeinsam. Nichts außer diesen Park, der auf unserem Weg liegt. Unsere Leben hatten noch nie besonders viel gemeinsam. Aber es gab eine Zeit, als das keine Rolle spielte.
    Unsere Schule, die Blücher-Grundschule, stand und steht noch heute an der Grenze zwischen den Berliner Bezirken Kreuzberg und Neukölln. In einem Kiez, der schon Probleme hatte, bevor der Begriff »Problemkiez« erfunden war. Die Arbeitslosenquote liegt bei fast zwanzig Prozent, der Anteil von Anwohnern mit nichtdeutschem Pass weit darüber. Die Hälfte der Kinder in meiner Klasse hatte Eltern, die nicht aus Deutschland stammten. Wir wurden alle Anfang der achtziger Jahre geboren, meine Mitschüler gehörten zur zweiten Einwanderergeneration. Ehsans Eltern zum Beispiel waren aus dem Iran geflohen. Die Eltern von Arzu, Elin, Murat, Sibel, Aylin und Fatih waren wie die Eltern von Ahmed als »Gastarbeiter« aus der Türkei nach Deutschland gekommen – und geblieben. Ibrahims Familie hatte den Libanon verlassen müssen. Samis Vater war ein afghanischer Anwalt. Cem hatte eine deutsche Mutter und einen türkischen Vater. Julians Vater war Perser, die Mutter deutsch. Dina war die Tochter von Flüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien. Anupamas Familie war in Sri Lanka bedroht worden.
    Genauso unterschiedlich wie die Geschichten der Kinder aus nichtdeutschen Familien waren aber auch die Geschichten der deutschen Kinder in meiner Klasse. Tanjas Mutter war arbeitslos. Die Eltern von Simon betrieben eine Öko-Bäckerei, die von Max ein teures Restaurant. Antons Eltern waren Psychologen, die Mutter von Judith Versicherungsangestellte. Die Familien der deutschen Kinder stammten zwar aus demselben Land – besonders viel gemeinsam hatten sie deswegen aber noch lange nicht.
    Unsere Grundschule war damals eine fortschrittliche. Wir waren die ersten Schüler Berlins, die samstags keinen Unterricht hatten. Und, was mir damals weniger wichtig erschien: Viele Lehrer und Eltern sahen es als Chance, dass die Schüler solch unterschiedliche Hintergründe hatten, dass hier Akademikerkinder und Kinder aus weniger privilegierten Verhältnissen zusammen lernten – und voneinander. Wenn Ahmed wieder mal eine Sechs im Diktat bekam, erklärte ich ihm die Sache mit dem Dativ, und er machte dafür meine Mathe-Hausaufgaben. Wir stritten uns über Lieblingsfarben, Lieblingsvereine, Lieblingsmitschüler, Lieblingslehrer oder wegen »Mensch ärgere dich nicht«, wir bildeten Grüppchen und waren sicher sehr oft gemein zueinander. Aber eine Sache spielte in unserer Klasse nie eine Rolle: Unsere Herkunft. Wir alle kamen aus Berlin.
    Erst als der strenge Herr Sontheimer, unser Klassenlehrer für die letzten zwei Grundschuljahre, uns in einer grauen Nachmittagsstunde mitteilte, welche Oberschul-Empfehlung jeder Schüler bekommen würde, fiel es uns auf. Fast alle Kartoffelkinder sollten Abitur machen. Und die Kartoffeln, deren Noten für das Gymnasium nicht reichten, wurden von ihren Eltern trotzdem aufs Gymnasium geschickt. Notfalls mit Hilfe eines Anwalts. »Die Ausländer bleiben hier«, sagte Ahmed. Er meinte die Straße, in der wir beide wohnten. Gegenüber lag eine Realschule. Er sollte Recht behalten: Er und sein Bruder und die anderen Kinder, deren Nachnamen ich am ersten Schultag noch so lustig fand, weil sie klangen wie die Spezialitäten auf den Speisekarten der zahlreichen Dönerläden im Kiez, kamen nicht mit. Der große Fatih, Sami und Sibel waren die einzigen Kinder mit so genanntem Migrationshintergrund, die eine Empfehlung für das Gymnasium erhielten. Sibel durfte dort nicht hin, das bringe doch nichts, meinte der Vater. Sami kam mit mir in die nächste Klasse. Der große Fatih sagte nicht, wohin er gehen würde. Arzu war bereits nach der vierten Klasse auf eines der wenigen Gymnasien
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