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Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit

Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit

Titel: Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit
Autoren: Patrick Bauer
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lernen. Schulen, an denen die soziale und ethnische Mischung nicht ausgewogen ist. Schulen, die anders aussehen als die Blücher-Grundschule zu meiner Zeit.
    Mir war die Frage meines Bekannten, auf welche Schule meine ungeborenen Kinder eines fernen Tages gehen würden, ziemlich egal. »Das Problem der Deutschenfeindlichkeit werdet ihr in Neuhausen wohl kaum haben«, sagte ich, um zu diesem Thema trotzdem etwas zu sagen.
    »Wir ziehen weg aus Neuhausen«, sagte der Bekannte, »an den Stadtrand. Vor der Haustür ist dann der Wald.«
    »Schön. Aber ihr zieht doch bestimmt nicht wegen den Ausländern weg?«, fragte ich.
    »Nun«, sagte der Bekannte, »so einfach ist das nicht.«
    Der Bekannte hat zwei Kinder, Tochter und Sohn. Die Tochter steht kurz vor der Einschulung. Gleich um die Ecke von der hellen Altbauwohnung, in der die Familie des Bekannten bis dahin gelebt hatte, liegt eine Grundschule. 2025 Grundschüler gibt es in ganz Neuhausen-Nymphenburg. 400 davon sind laut Städtischem Taschenbuch der Stadt München ausländischer Herkunft. Das sind 19,75 Prozent. »Wir haben uns die Grundschule gleich angeschaut«, sagte der Bekannte. Er machte eine lange Pause. »Ja, und?«, fragte ich. Da brach es aus ihm heraus: Ihm sei das unangenehm. Ich wisse doch, dass er politisch links stehe, irgendwie, in den meisten Fragen. Er habe bisher immer die Grünen gewählt. Er habe wirklich, das sei ja wohl klar, nichts gegen Ausländer. Gar nichts. Null. Aber!
    In ihrer Nachbarschaft, da stünde doch dieser Sozialbau, ebenfalls im Einzugsbereich der Grundschule. Und nun ja, was solle er sagen: In diesem Sozialbau lebten viele Ausländer, und man wisse schließlich, wie das sei, darunter gäbe es schwierige Kinder aus schwierigen Familien. Und dann, fuhr der Bekannte fort, habe er mit seiner Frau den Infoabend dieser Grundschule besucht und die Frage habe sie beschäftigt: Gehen all die schwierigen Kinder auf diese Schule? Doch die Direktorin habe partout nicht den – da fiel das Wort endlich – Ausländeranteil ihrer Einrichtung nennen wollen. Und schließlich habe seine Frau eine Idee gehabt: Sie seien die Gänge entlanggelaufen und hätten auf jedem einzelnen Klassenfoto nichtdeutsche Kinder gezählt. Auf einen Anteil von mindestens dreißig Prozent seien sie gekommen.
    Ich versuchte, mir das vorzustellen: Da geht ein junges Paar aus der Mitte der Mittelschicht den Gang einer Grundschule entlang und zählt Ausländer. Ein süßer Junge mit dunkler Haut, ein kleines Mädchen mit schwarzen Haaren und braunen Augen, ein frecher Asiate in der ersten Reihe. »Hast du die Kleine mit dem Kopftuch notiert, Schatz?« Woher wissen der Bekannte und die Bekanntenfrau, dass der vermeintliche Asiate nicht tausendmal besser rechnen kann als ihre Tochter? Dass nicht der blonde Junge in der letzten Reihe ein fieser Schläger ist? Wer sagt ihnen, dass das türkische Mädchen nicht viel schönere Aufsätze schreiben wird als ihr blauäugiges Mädchen und mehr über die deutsche Revolution von 1848 weiß? Wieso ist das türkische Mädchen überhaupt türkisch? Weil es so aussieht? Haben sie ihren Pass kontrolliert? Wie kommen diese behütet aufgewachsenen, beschaulich lebenden, anständig verdienenden Menschen darauf, dass Horrormeldungen aus dem tiefsten Neukölln etwas mit ihrer heilen Welt in München-Neuhausen-Nymphenburg zu tun haben? Wie konnte es so weit kommen, dass der Bekannte die Gleichung verinnerlicht hat: »Ausländer = Gefahr?« Und sich trotzdem noch für liberal hält.
    »Dreißig Prozent Ausländeranteil«, sagte mein Bekannter, »das ist mir einfach zu viel.«
    »Warum?«
    »Na, wegen der Sprache! Die sprechen doch oft nur schlecht Deutsch!«
    »Die? Wer sind die?«
    »Die Kinder aus nichtdeutschen Familien! Ich habe doch nichts gegen die, aber meine Tochter kann deutsch, die kann auch schon schreiben und lesen, die braucht keine Deutschnachhilfe! Vielleicht widerspreche ich meinen politischen Überzeugungen, aber ich will meine Tochter nicht opfern!«
    Ich frage mich seit diesem Abend, wer für den Zusammenhalt in diesem Land gefährlicher ist: Die verängstigte Mittelschicht, die sich verzweifelt dagegen wehrt, zu den Verlierern zu gehören, von denen es in unserer Gesellschaft immer mehr gibt. Oder die verängstigten Eltern, die verzweifelt dafür kämpfen, dass ihre Sprösslinge die besten Startplätze bekommen. Wahrscheinlich sind Menschen wie der Bekannte die größte Bedrohung: verängstigte Eltern aus der
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