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Die Päpstin

Titel: Die Päpstin
Autoren: Aufbau
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Geschichte erzählen, weil
     du so nett zu fragen verstehst.«
    Ihre Stimme war wieder warm, wehmütig und melodisch, als sie von den Göttern ihrer Kinderzeit in Sachsen erzählte, von Wotan
     und Thor und Freyja und all den anderen – bis Karls Armeen einmarschiert waren und mit Flamme und Schwert |21| das Wort Christi gebracht hatten. Andächtig erzählte Gudrun von Asgard, der strahlenden Heimstatt der Götter, einem Ort mit
     goldenen und silbernen Schlössern, der nur erreicht werden konnte, wenn man Bifrost überquerte, die geheimnisvolle Brücke
     des Regenbogens, die von Heimdall dem Wächter behütet wurde, der niemals schlief und dessen Ohren so scharf waren, daß er
     sogar das Gras wachsen hören konnte. In Walhall, dem schönsten aller Orte, wohnte Wotan, der Göttervater, auf dessen Schultern
     zwei Raben saßen: Hugin, der Gedanke, und Munin, die Erinnerung. Während die anderen Götter feierten, saß Wotan auf seinem
     Thron und grübelte darüber nach, was Gedanke und Erinnerung ihm erzählten.
    Johanna nickte glücklich. Diesen Teil der Geschichte hörte sie am liebsten. »Erzähl mir von der Quelle der Weisheit«, bettelte
     sie.
    »Obwohl er bereits sehr, sehr klug war«, erzählte Gudrun, »war Wotan stets auf der Suche nach immer mehr Wissen. Eines Tages
     ging er zur Quelle der Weisheit, die von Mimir dem Weisen bewacht wurde, und bat um einen Schluck aus dieser Quelle. ›Was
     gibst du mir dafür?‹ fragte Mimir. Wotan antwortete, daß Mimir sich wünschen könne, was immer sein Herz begehrt. ›Die Weisheit
     muß stets mit Schmerz erkauft werden‹, sagte Mimir. ›Wenn du einen Schluck von diesem Wasser haben möchtest, mußt du mit einem
     deiner Augen dafür bezahlen.‹«
    Das Gesicht vor Aufregung gerötet, rief Johanna: »Und Wotan hat es getan, nicht wahr, Mama? Er hat es getan!«
    Ihre Mutter nickte. »Obwohl es eine schwere Entscheidung war, erklärte Wotan sich einverstanden, eins seiner Augen herzugeben.
     Dann trank er von dem Wasser. Später gab er die Weisheit, die er auf diese Weise erlangt hatte, an die Menschen weiter.«
    Mit großen, ernsten Augen schaute Johanna ihre Mutter an. »Hättest
du
das auch getan, Mama? Um weise zu sein? Um über alle Dinge Bescheid zu wissen?«
    »Nur Götter treffen solche Entscheidungen«, erwiderte Gudrun, doch als sie den beharrlichen, fragenden Blick ihrer Tochter
     sah, gab sie schließlich zu: »Nein. Ich hätte zu große Angst gehabt.«
    »Ich auch«, sagte Johanna nachdenklich. »Aber ich würde es tun
wollen
. Ich würde wissen wollen, was die Quelle mir erzählen kann.«
    |22| Gudrun lächelte auf das kleine, entschlossene Gesicht hinunter. »Aber es würde dir wahrscheinlich gar nicht gefallen, was
     du von der Quelle erfahren würdest. Bei meinem Volk gibt es ein Sprichwort. ›Das Herz eines weisen Mannes ist nur selten froh.‹«
    Johanna nickte, obwohl sie den Sinn dieser Worte nicht richtig verstanden hatte. »Und jetzt erzähl mir von dem Baum«, sagte
     sie und kuschelte sich wieder eng an ihre Mutter.
    Und Gudrun beschrieb Irminsul, die Weltesche. Der Baum hatte im heiligsten aller sächsischen Wälder gestanden, an der Quelle
     der Lippe. Gudruns Volk hatte diesen Baum verehrt; doch er war von den Armeen Kaiser Karls gefällt worden.
    »Es war ein wunderschöner Baum«, erzählte Gudrun, »und so hoch, daß niemand den Wipfel sehen konnte. Der Baum …«
    Sie hielt inne. Johanna spürte plötzlich, daß noch jemand im Raum war. Sie hob den Kopf. Ihr Vater stand im Türeingang.
    Gudrun setzte sich im Bett auf. »Mein liebster Gemahl«, sagte sie erstaunt. »Ich habe dich erst in vierzehn Tagen zurückerwartet.«
    Der Dorfpriester gab keine Antwort. Er nahm eine Wachskerze vom Tisch in der Nähe der Tür, ging zum Herdfeuer und zündete
     die Kerze an den glühenden Scheiten an.
    »Das Kind hatte Angst vor dem Donner«, sagte Gudrun nervös, als das Licht der Kerze sich ausbreitete. »Da habe ich mir gedacht,
     ich lenke es mit einer harmlosen Geschichte ab.«
    »Harmlos!« Die Stimme des Dorfpriesters zitterte vor Anstrengung, als er sich mühte, seine Wut im Zaum zu halten. »Eine solche
     Gotteslästerung nennst du harmlos?« Mit zwei langen Schritten war er neben dem Bett, stellte die Kerze ab und zog mit einem
     Ruck die Decke zur Seite, so daß Mutter und Tochter im flackernden Licht der Flamme zu sehen waren. Johanna hatte die Arme
     um Gudruns Leib geschlungen und war halb von einem Vorhang aus langem,
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