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Die Obelisken von Hegira

Die Obelisken von Hegira

Titel: Die Obelisken von Hegira
Autoren: Greg Bear
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tiefblau. Das Zenitlicht weitete sich aus und wurde gelblich, dann grün. In der Spanne eines Augenzwinkerns bewerkstelligte das Grün seine magische Verwandlung in Blau. Ein Dampfwagen zischte und rasselte tief drunten in einer Gasse.
    „Wird der Meister Sulay uns denn nicht vermissen, Bei?“ fragte Barthel schläfrig von seiner Decke auf dem Fußboden her.
    „Eine Zeit über nicht“, antwortete Bar-Woten. Er drehte sich um, um den Mann auf dem Bett anzuschauen. Sein Atem ging leicht und regelmäßig. Sein bleiches Gesicht hatte während der Nacht eine bessere Farbe angenommen. Er sah beinahe gesund aus.
    Bar-Woten überprüfte seinen Puls und drückte seine Fingernägel, und immer noch schlief der Mann. Barthel meinte, selbst das Zerhämmern von Felsen würde einen gesundenden Mann nicht wecken, bevor sein Körper bereit war.
    „Du hast mir erzählt, deine Mutter hätte Geschichten über Kristen gewußt“, sagte Bar-Woten. „Erinnerst du dich an irgendwelche davon?“
    Für den kürzesten aller Augenblicke umwölkte sich das Gesicht des Jungen, und seine Augen verengten sich. Dann war es wieder hell und freundlich, und er lächelte. „Nicht allzugut, Bei. Zumeist abfällige Geschichten über ihre Sitten und Gebräuche, die zu kritisieren ich nicht länger berechtigt bin, da ich sie sehr oft mit Euch teile. Das Essen unreiner Speisen, das Trinken von Wein und anderen verbotenen Getränken.“
    „Nichts darüber, warum ein Mann sich selbst ins Siechtum treiben sollte, um seinem Gott zu begegnen?“
    „Nein, Bei.“
    Vielleicht war es derselbe Grund, aus dem einst zwei Millionen Männer das wunderschöne Land Ibis verlassen hatten, um das Atlasade-Gebirge in Richtung Khem, Barthels Land, zu überqueren. Oder aus dem sie sich selbst gemartert hatten, indem sie durch das Pais Vermagne zogen, tausend Kilometer Sumpf und Pestilenz und tödliche Reptilien, statt eine leichtere Route zu wählen – und das alles nur, um in Khem vernommenen Legenden von einer Stadt der Erstgeborenen nachzuspüren. Sie hatten ein eintöniges Steppenland vorgefunden und mitten darin eine Hügelkette, die so öde und staubig war wie die Wüsten westlich von Ibis. Kein Schatz, keine sagenhafte Stadt.
    Auch der Büßer suchte nach Schätzen, und sein Pfad war gleichermaßen rauh. Bar-Woten stellte seine eigene geistige Gesundheit in Frage, indem er Mitgefühl verspürte, aber eben das tat er. Mitgefühl und warme Zuneigung. Willkommen, Weggenosse! Wie viele Seelen hast du in dir selbst getötet, da du versuchtest, jene eine zu finden, die du Gott darbieten konntest mit den Worten: Schau – rein!
    Gewiß nicht so viele Seelen, wie ich getötet habe, dachte Bar-Woten. Seelen, die meistens in den Körpern anderer wohnten.
    „Hallo“, sagte der Büßer. Der Ibisier schrak aus seinen Träumereien auf und schaute den Mann fest an. Das bleiche Gesicht gab den Blick zurück wie eine Statue. Die Lippen waren vom Fieber aufgesprungen, die Nasenflügel rot vor geplatzten Äderchen. „Ihr habt mich für die Nacht aufgenommen?“
    „Nichts Rühmliches“, sagte Bar-Woten. „Ihr habt Euch beinahe selber umgebracht. Die Gottheiten der meisten Völker verabscheuen den Selbstmord.“
    „Wo bin ich?“
    „In einer Herberge.“
    „Ich muß gehen.“ Die Augen des Büßers waren von wässrigem Grün, in dem riesige schwarze Pupillen schwammen. Die Mundwinkel hatte er beständig hochgezogen, und die Haut um seine Augen kräuselte sich ganz so, als ob er, wie ein mutwilliges Kind, jeden Augenblick würde loslachen mögen. Aber das waren nur Verrätereien seines Körpers. Er selbst war vollkommen ernst.
    „Niemand hält Euch zurück. Ihr solltet jedoch wenigstens Eure Kräfte zurückerlangen. Eßt etwas.“
    „Ich habe zu fasten gelobt.“
    „Wie lange? Bis Ihr verhungert?“
    „Ich verhungere jetzt. Es bringt mich dichter an mein Ziel heran.“
    „Und was ist Euer Ziel?“
    „Im Lichte Gottes zu leben, nicht im Morast der Welt.“
    „Wie heißt Ihr?“
    „Jacome. Und Ihr?“
    „Bar-Woten.“
    „Ein ungewöhnlicher Name.“
    „Ich bin Ibisier. Ich wählte meinen Namen, als ich vor fünfzehn Jahren einen Bären tötete. Er krallte mir ein Auge aus, bevor er starb. Bärentöter, Einauge. Bar-Woten. Warum nennt Ihr Euch Jacome? Das ist nicht Euer Name. Habe ich recht darin, daß Büßer, wenn sie der Welt zu entsagen versuchen, sich selbst entsagen müssen? Ihre Namen ändern müssen?“
    „Ja“, sagte Jacome. „Narren Gottes.
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