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Die Obelisken von Hegira

Die Obelisken von Hegira

Titel: Die Obelisken von Hegira
Autoren: Greg Bear
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oder den Himmel, zu richten, denn eben das ist es, was Yesu – gewißlich ein großer Prophet – wünschte und ihnen predigte.“
    „Aber Yesu hat niemals auf Hegira gelebt.“
    „Nein. Es ist Dogma, daß keine Person, die auf den Obelisken erwähnt wird, je auf Hegira lebte. Immerhin waren sie die Erstgeborenen, Bei.“
    Bar-Woten nickte und starrte hinauf in die Nacht. Bald würde eine orangene Feuertaube sich wie eine ferne Fackel erheben, die neunte Stunde der Finsternis zu verkünden, und der Himmel würde beginnen, sich purpurn zu färben. Eine halbe Stunde später würde er von morgendlichem Blau sein. Die Straßen würden frei von Fußgängern sein, wie es das mediwewanische Gesetz seit fünfhundert Jahren befahl. Von den Feldern und Seeufern würden Karren und Dampfwagen hereingefahren kommen, und die Metropole würde zum Tagesleben erwachen: Märkte und Aufkäufer, Buchhändler und Wanderhistoriker, alle nützlichen Dienstleistungen gegen gebührendes Honorar. Bar-Woten genoß diese Stadt und ihre Eigentümlichkeiten. Er verspürte sogar so etwas wie gemischte Zuneigung für die verrückten Pönitenten.
    „Ich kann Euch nur sehr wenig über Yesu erzählen, Bei“, sagte Barthel, um anzudeuten, daß er noch nicht entlassen worden war. Bar-Woten wedelte mit der Hand, und der Junge verschwand in einem Geraschel von Gewändern.
    Bar-Woten war froh, daß nicht genug von Sulays Armeen übriggeblieben waren, um Mediwewa zu zerstören. Während des zwanzigjährigen Langen Marsches waren die Heerscharen von zwei Millionen auf zehntausend zusammengeschrumpft. Sie konnten sich immer noch auf ihren Ruf verlassen, um diplomatische Siege zu erringen, und gelegentlich konnten auch ein paar mit den Reihen der restlichen Soldaten gesäumte Hügel zögernde Führer überzeugen, aber der Lange Marsch – nein, der Lange Marsch war vorbei!
    Sie hatten fünfzigtausend Kilometer hinter sich gelassen, die Gebiete von fünf Obelisken, und dabei doch nur dreiundzwanzig Grad von Hegiras Krümmung durchmessen. Die Überlebenden von Sulays Langem Marsch kannten die ungeheure Größe Hegiras, wie kein anderer vor ihnen sie gekannt hatte. Seit nunmehr zwei Jahren, von dem Zeitpunkt an, da die letzten der Geographen und Geometer ihre Berichte abgeschlossen hatten, war Bar-Woten in ständiger Angst dahinmarschiert. Angst nicht vor Menschen – er hatte mindestens zweitausend Menschen eigenhändig getötet, und sie verfolgten ihn nicht –, sondern vor der Welt, auf welcher er lebte.
     
    An jenem Abend rief Sulay Bar-Woten zu sich in die Bibliothek. Der Ibisier ließ Barthel in ihren Quartieren zurück und marschierte die kühlen Steinkorridore des Palastes der Hauptstadt hinunter, wobei sein Blick immer wieder hinauf zu den Fresken schweifte, die in den schwach beleuchteten Gewölben vor sich hin blätterten. Das Gefühl hohen Alters bedrückte ihn heute abend. So viele Jahre, so viel Zeit, Böses zu tun … Schichten um Schichten menschlichen Drucks, die schwer auf dem Einzelnen lasteten wie Meilen von Fels.
    Die Fresken zeigten Schlachtszenen, die nach Obelisken-Texten gestaltet waren. Bar-Woten spürte mit schmerzhafter Deutlichkeit des Malers Mangel an persönlicher Erfahrung, und seine Befähigung zu sachverständiger Kritik erfüllte ihn mit einer Mischung aus Stolz und Abscheu. Kopfschüttelnd und grimassierend trat er durch die Tür der Bibliothek.
    Der Geruch nach Papier und Tinte und alten Buchrücken hing schwer in der fast reglosen Luft. Der ganze Sauerstoff schien von der jahrelang vor sich hin modernden Pulpe aufgesaugt worden zu sein. Bar-Woten unterdrückte ein Verlangen, zu würgen. Ein Bibliothekar mittleren Alters, dessen Haar sich schon lichtete, führte ihn durch lange, gewundene Regalreihen. Schließlich blieb er stehen und deutete mit einem knochigen, von Tinte befleckten und am ersten Knöchel schwielig verdickten Finger voraus.
    Sulay saß auf einem Hocker, ein dickes, großformatiges Buch aufgeschlagen auf dem Schoß. Sein graues Haar und der kahle Fleck schimmerten im Licht der Batterie von Öllampen, die neben ihm aufgestellt waren. Bar-Woten bemerkte den Handpumpen-Feuerlöscher, der nahebei in einer Halterung hing.
    „Junger Bärentöter“, sagte Sulay, indem er aufblickte. Bar-Woten verneigte sich leicht.
    „Der General sollten ruhen“, sagte er dringlich.
    Sulay ignorierte ihn. „Sie sind ein bißchen höher gekommen als wir“, sagte er, während er die Seiten durchblätterte. „Bessere
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