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Die Obelisken von Hegira

Die Obelisken von Hegira

Titel: Die Obelisken von Hegira
Autoren: Greg Bear
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entgegen, gesprenkelt von gelegentlichen Regentropfen.
    Besonders ein Theologe verstand es, inmitten des Tohuwabohus Würde und Gelassenheit zu bewahren. Er verfügte über eine gut ausgebildete Stimme, und sein Witz war von schneidender Schärfe. Sie lauschten ihm eine Weile, dann gingen sie weiter. Bar-Woten verzog den Mund, als sie den Aquädukt verließen. War wohl Heisos, oder Yesu, ein wackerer Krieger mit Worten gewesen oder bloß ein haarspalterischer Disputant?
    Das Wetter verschlechterte sich. Während sie in einem rauchigen, ganz aus Holz erbauten Speisehaus mit vom Alter stumpfen Glasfenstern ihr Mittagessen einnahmen, beobachteten sie, wie sich das Nieseln zu Regen verdichtete, ganz ähnlich, wie das Fett eines Lammes auf ihren Tellern gerann. „Ich ändere meine Meinung über die Kälte; sie ist unangenehm“, sagte Barthel, indem er den Jackenkragen dicht um seine Ohren schlug. „Ich wünsche mir oft, der Bei hätte sich entschlossen, in Khem zu residieren, wo es für gewöhnlich warm ist.“ Bar-Woten nickte.
    Schon bald würde der Tag in die Dunkelheit münden. Bar-Woten gefiel der Gedanke keineswegs, nach Anbruch der Dunkelheit zu Fuß zum Zentralplatz und dem Nocturne zurückkehren zu müssen, und das so gut wie unbewaffnet. Es war schlicht ungesund.
    Sie machten sich auf den Weg, gerade bevor die Dämmerung begann. Zu dieser Jahreszeit waren die Tage zehn Stunden lang und die Nächte vierzehn. Das Wetter versprach in der Dunkelheit noch übler zu sein. Der Wind sog an ihnen und wand sich um ihre Rücken, ließ ihre Augen stechen. Katzen schwappten in einer nassen Flut von einer Gasse in die nächste, erbärmlich maunzend. Bar-Woten erkannte den Grund, als sie die Gasse passierten – eine Regenrinne, die das Dach der Schänke säumte, war gebrochen und hatte so ein trocknes Eckchen in den Fuß eines Wasserfalls verwandelt.
    „Es wäre gut, irgendwo Unterschlupf zu suchen“, sagte Barthel unter seiner Jacke hervor. Die Augenbrauen des Jungen, buschig bei eitel Sonnenschein, waren nun zusammengepappt, so daß sie einen soliden, gezackten Balken quer über seinen Brauen bildeten. Seine dunkelbraunen Augen waren gegen die Regentropfen zu Schlitzen zusammengekniffen.
    Bar-Woten beschirmte mit der Hand sein gesundes Auge und musterte den Eingang zur Herberge. Instinktiv wußte er, daß sie ein Paradies für allerlei Ungeziefer sein würde. Aber er mißtraute auch nassem Wetter in fremden Landen. Genug Krankheiten hatten ihn unter ähnlichen Umständen befallen, um ihn vorsichtig zu machen.
    „Wartet!“ sagte Barthel und spähte nach hinten in die Gasse, wo die Katzen gehaust hatten. Die Kaskade war zu einem Rinnsal versiegt. In der Tiefe der Gasse bewegte sich etwas. Es war formlos, größer als ein Mensch. Barthel wich einen Schritt zurück, und Bar-Wotens Nackenhaare sträubten sich.
    Er wischte sich das Auge mit dem Knöchel seines Daumens und sah, daß die Gestalt am Ende doch nichts Monströses an sich hatte. Ein Mann versuchte zappelnd, sich unter einem Haufen aus nassem Papier und Lumpen hervorzukämpfen, ein schwaches und wenig vielversprechendes Bemühen bestenfalls. Der erste Gedanke des Ibisiers war, möglichst rasch allein von hier zu verschwinden – dieses mutmaßliche Seuchenopfer war kein rechter Freund für einen fremdländischen Besucher ohne Immunstoffe. Aber dann erkannte er dank langer Erfahrung in der Schlacht die Anzeichen. Der Mann siechte nicht an einer Seuche dahin, er war schwach vor Blutverlust. Sie näherten sich ihm vorsichtig. Bar-Woten hockte sich neben den Haufen.
    Der Mann war ein Büßer. Seine Peitsche war noch immer an seinem Gürtel festgemacht, und die Schnüre hatten sich zwischen seinen zerkratzten und mit Striemen übersäten Beinen verheddert. Aber dieser junge Bursche war kein Priester oder professioneller Asket. Er war kaum zwanzig und nahezu tot. Seine Rücken wunden hatten genug geschwärt, um ihm abgrundtiefe Visionen zu schenken, die für ein ganzes Leben reichten. Jetzt war er bewußtlos. Bar-Woten rief Barthel zu Hilfe, und gemeinsam hoben sie ihn an Armen und Beinen auf. „Wir werden ihn in die Herberge bringen“, sagte er.
    „Er ist in schlechter Verfassung“, sagte Barthel. „Er wird so oder so bald sterben.“
    Die Empfangstheke der Herberge war unbesetzt. Das Innere des Gebäudes war unstet mit Gaslampen erleuchtet. In Auflösung übergegangene Tapeten ringelten sich die Wände hoch, und der Fußboden knarrte verdächtig. Ein Geruch nach
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