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Die Novizin

Die Novizin

Titel: Die Novizin
Autoren: Colin Falconer
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anstarrte, die er auf ihrem Tuch ausgebreitet hatte. Ich sah sie im Schein der Kerze dort liegen, kreideweiß und zerbrechlich. Vermutlich waren sie im Laufe der Zeiten an vielen verschiedenen Stätten aufbewahrt worden – in Reliquienschreinen, Grabmälern, Katakomben. Ich konnte einen Beinknochen erkennen, Hüftknochen, Teile der Wirbelsäule, der Hände und Knöchel. Der Schädel fehlte, was mich aus irgendeinem Grund beunruhigte.
    Mein Ordensbruder saß mit Feder, Tinte und Pergament an seinem Tisch. Ich nahm an, dass er bereits seit geraumer Zeit über den, Brief nachdachte, den er nach Rom wurde schicken müssen. Ich hatte nie zuvor Zweifel oder Furcht in seinem Gesicht gesehen, doch nun nahm ich beide Gefühle in seinem Ausdruck wahr.
    »Bruder Subillais, geht es dir gut?«
    »Es ist dunkel heute Nacht«, erwiderte er. »Der Mond ist hinter den Wolken verschwunden.«
    »Fühlst du dich nicht wohl? Du bist so blass.«
    »Mein Bein macht mir wie immer zu schaffen.« Die ständigen Schmerzen in den letzten Monaten hatten ihn altern lassen. Tiefe Furchen hatten sich in sein Gesicht gegraben. »Auch du wirkst bekümmert, Bruder.«
    »Es sind diese Gebeine«, sagte ich. Ich versuchte, seine Miene zu deuten, und fragte mich, ob er dasselbe dachte wie ich, ob derselbe Zweifel an ihm nagte. »Könnten diese Knochen nicht vielleicht doch wertvoll sein? Wäre es möglich, dass es sich um die Gebeine eines Heiligen handelt?«
    »Ihre Herkunft ist ungewiss.«
    Gott vergib mir, aber derartige Bedenken hatten noch keinen Geistlichen daran gehindert, sich Relikte zunutze zu machen.
    Allerdings war es ein unantastbarer Glaubenssatz unserer Kirche, dass der Heiland von den Toten auferstanden und zum Himmel gefahren war. Er konnte keine Gebeine auf Erden hinterlassen haben. Gewiss waren jene Knochen die unbedeutenden Überreste eines vergessenen Römers oder Juden.
    Und dennoch – was mich über alle Maßen beunruhigte, war die Frage, ob Eleonores Behauptung nicht doch der Wahrheit entsprach. Was, wenn es sich tatsächlich um die Gebeine von Jesus Christus handelte?
    Ich hatte schließlich die Inschrift auf der Deckelplatte des Grabmals gelesen.
    Schon als Kind kannte ich die Legende, der zufolge Maria und Maria Magdalena nach der Kreuzigung ins heutige Frankreich geflohen waren.
    Ich hatte während zahlloser Ketzerbefragungen immer wieder die Aussage gehört, dass nicht Christus, sondern ein Dieb am Kreuz gestorben sei.
    Ich hatte derlei Behauptungen so viele Male vernommen, dass ich sie inzwischen ebenso gut kannte wie den Katechismus. Und noch nie zuvor hatte ich einen Moment des Zweifels erlebt. Bis zu jener Nacht.
    Es war Bruder Subillais selbst, der aussprach, was ich nur zu denken wagte. »Du hast dir gestattet, dich zu fragen, ob diese Gebeine nicht vielleicht doch dem Heiland gehören. Das ist es, was dich beunruhigt, nicht wahr?«
    Ich nickte nicht mit dem Kopf, zeigte ihm nicht, dass er meine Gedanken erraten hatte.
    »Aber wie sollte das möglich sein?«, fuhr er fort und beantwortete damit auch seine eigene Frage. »Unser Herr ist zum Himmel gefahren. Er ist von den Toten auferstanden und hat keine sterblichen Überreste hinterlassen.«
    Ich senkte den Blick. Ich hatte meinen Glauben für unerschütterlich gehalten und schämte mich.
    »Ach Bernard … Du verstehst es nicht. Du begreifst nicht, dass diese Frage nicht wichtig ist.«
    »Was meinst du damit, Bruder?«
    »Jesus Christus ist eine Idee. Es ist nicht von Bedeutung, ob diese Knochen dort seine Gebeine sind oder nicht. Allein die Idee zählt. Sie ist es, an die wir uns klammern, sie macht unseren Glauben aus.«
    »Aber wenn es keine Auferstehung gab, woran glauben wir dann?«
    »Wir glauben an den Glauben«, erwiderte er in einem Tonfall, als könne er nicht verstehen, dass ich dies nicht wusste. Er sprach zu mir wie zu einem unwissenden Kind.
    »Du denkst also, dass die Gebeine echt sein könnten?«
    »Was ich denke? Ich denke, dass eine andere Frage wichtiger ist. Sollen wir den Häretikern das Wort reden oder müssen wir nicht eher unsere Heilige Kirche schützen, die auf dem langen Weg zwischen Geburt und Tod der einzige Quell der Hoffnung für die Menschen ist?«
    »Ich möchte an die Wahrheit glauben.«
    »Die Wahrheit ist das, woran wir glauben.«
    In jenem Augenblick starb ich. Ich vermag es nicht zu erklären. Ich starb und wurde als anderer Mönch, als anderer Mensch, wiedergeboren. Doch in meiner Seele klaffte nun ein Loch, von dem ich wusste,
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