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Die Novizin

Die Novizin

Titel: Die Novizin
Autoren: Colin Falconer
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schrie Sicards Namen, nicht, damit er mir zu Hilfe kam, sondern weil ich glaubte, er sei tot.
    Maurand drehte mich auf den Rücken und zwang seine Knie zwischen meine Beine. Er hielt meine Handgelenke am Boden fest. »Ihr habt meinen Gedanken keine Ruhe gelassen und mich Tag und Nacht gepeinigt, und jetzt habt Ihr mich auch noch ruiniert!«, brüllte er.
    Solche Worte hatte auch Bernard zu mir gesagt – ich hatte ihn in Versuchung geführt, ich hatte sein Übel verursacht. Ich war schuld. Maurand zerrte mit einer Hand an seinem Beinkleid. Er wollte sich an mir vergehen, doch ihm war kalt, er hatte Angst – er konnte es nicht. Zudem begehrte er mich im Grunde wohl gar nicht mehr. Hass trieb ihn voran, nicht Verlangen.
    »Ihr seid ein Dämon«, zischte er mir zu. »Seht nur, was Ihr aus mir gemacht habt!« Er begann zu schluchzen und schlug gleichzeitig mit den Fäusten auf mich ein.
    Ich weiß nicht, wie lange ich dort unter ihm im Schnee lag, doch plötzlich wurde sein Gewicht von mir genommen, und ich sah, dass Sicard ihn gepackt hatte, obwohl der Dolch immer noch in seiner Schulter steckte. Er schleifte Maurand zum Rand des Pfades und schleuderte ihn den Abhang hinunter. Ich hörte einen Schrei – und dann nur noch das Poltern von Geröll.
    Sicards Gesicht war kalkweiß. Blut sickerte durch seinen Umhang. Ich versuchte, den Dolch herauszuziehen, aber es gelang mir nicht. Also zog ich Sicard unter Aufbietung all meiner Kräfte zu unserem Maulesel und half ihm, aufzusteigen. Das arme Tier taumelte unter seinem Gewicht. Und obgleich ich noch wenige Augenblicke zuvor vor Schwäche kaum meinen Kopf hatte heben können, fand ich nun die Kraft, den Maulesel über den Pass zu führen. In jener Nacht suchten wir Schutz in einer Schäferhütte und träumten vom Leben in Katalonien.
     
    *
     
    Hier endet meine Geschichte, denn von jenem Zeitpunkt an führte ich ein ganz gewöhnliches Leben. Ich möchte all die Tage vergessen, die ich im Kerker des Seigneurs zubrachte, die Finsternis, die Einsamkeit, das Ungeziefer. Aber die Erinnerungen verfolgen mich, und noch immer wache ich manchmal mitten in der Nacht schreiend auf. Dann muss Sicard mich in seine starken Arme nehmen und sanft wieder in den Schlaf wiegen.
    Kurz nach unserer Begegnung mit Maurand überquerten wir die Grenze nach Aragon und fanden Zuflucht in einem kleinen Dorf, wo Sicard sich langsam von seiner Verletzung erholte. Im Sommer jenes Jahres wanderten wir auf der Suche nach Arbeit für Sicard von Ort zu Ort. Wir schlossen uns dem Pilgerstrom nach Santiago de Compostela an, und es war in Saragossa, wo ihn die Zunft der Steinmetze aufnahm, so dass er wieder die Arbeit tun konnte, die er am meisten liebte. Er half beim Bau einer neuen Kathedrale.
    Seit unser Sohn geboren ist, suchen mich keine Visionen mehr heim. Ich vermisse diese Gabe nicht. Aber in der Kathedrale betrachte ich noch immer gern die Statue der Madonna und finde in der reinen Güte ihres Antlitzes größeren Trost als in den leuchtend bunten Glasfenstern oder den hoch aufragenden Bögen des Hauptschiffs. Die Jungfrau streckt mir nicht mehr eine Hand aus Fleisch und Blut entgegen, doch ihr marmornes Abbild genügt mir nun. Es kündet mir von Liebe, Erbarmen und Geduld.
    Ich denke oft an Bernard, obwohl ich nichts mehr von ihm gehört habe. Ich frage mich, was aus ihm geworden ist, ob er nach Toulouse in das Dominikanerpriorat zurückkehrte oder vielleicht einen anderen Weg eingeschlagen hat, auf dem das Feuer Gottes ihn nicht länger mit seinen Flammen peinigt.
    Ich kann nicht anders, als darüber nachzudenken, was am Tag des Jüngsten Gerichts mit uns beiden geschehen wird. Und ich frage mich, ob Gottes ewiger Widersacher auf die Geschöpfe vorbereitet ist, die an jenem Tag zu ihm in die Hölle strömen werden. Angesichts dessen könnte ich beinahe Mitleid empfinden – Mitleid mit dem Teufel.
     
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