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Die Novizin

Die Novizin

Titel: Die Novizin
Autoren: Colin Falconer
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den Hals und einer Büßerkerze in der Hand schritt unser hoher Herr zum Westportal mit den beiden goldenen Löwen und schwor dem Papst bei den Reliquien, die in ihren Schreinen auf den Stufen ausgebreitet worden waren, ewige Treue.
    Dann führte ihn der Erzbischof in das Innere der Kirche, wobei er ihn mit einer Geißel aus Birkenzweigen auf den bloßen Rücken schlug. Indessen wuchs die Menge der Menschen, die diesen außergewöhnlichen Anblick nicht verpassen wollten, dermaßen an, dass Raymond der Rückweg versperrt war und er durch die Krypta hinausgeschmuggelt werden musste. Letzten Endes nutzte seine öffentliche Demütigung jedoch nichts, denn der Papst ließ trotzdem de Montfort und seine Soldaten auf uns los.
     
    *
     
    Die Menschen, die sich an jenem Tag in der Kirche drängten, waren keine Geistlichen, sondern Pilger. Sie beteten vor den Reliquien der Heiligen wie dereinst Raymond. Es ist wirklich eine prachtvolle Kirche. Fresken und Gobelins schmücken das Hauptschiff und die Nebenschiffe, und der Goldfaden in den seidenen Spruchbändern spiegelt den Schein von tausenden von Kerzen. Damals gab es mehr Gold zu sehen als heute. Vor allem die Altäre und Schreine in den Nischen, die von den beiden Querschiffen abzweigten, waren damit verziert. Ich hatte schon oft in dieser Kirche gebetet, aber wenn ich sie betrat, verschlug es mir jedes Mal aufs Neue den Atem.
    Ich ging zu der Statue der heiligen Jungfrau mit ihrem in Rot und Blau bemalten Gewand und kniete vor ihr nieder. Dann schloss ich die Augen und wandte all meine Willenskraft auf. Ich wollte sie dazu bewegen, erneut zu mir zu sprechen.
    »Sag mir, was ich mit dem Priester machen soll!«, murmelte ich wieder und wieder. »Sag mir, was ich mit dem Priester machen soll!« Ich ballte die Fäuste und presste sie gegen meine Stirn, bis es schmerzte. Doch es kam keine Antwort.
    Den ganzen Morgen lang wartete ich darauf, dass die Statue sich bewegen würde, wie sie es schon einmal getan hatte. Aber sie blieb eine Figur aus kaltem, wunderschönem Stein, ein Kunstwerk, nichts weiter.
    Nichts geschah.
    Wie ich Vater Bernard gesagt hatte – ich besaß keinerlei Macht über diese Visionen, auch dann nicht, wenn ich ihrer dringend bedurfte.
    Als ich in jener Nacht auf meiner Strohmatratze neben dem Kamin lag, hörte ich den Nachtwächter draußen mit seinem eisenbeschlagenen Stab klappern und sein »Alles ist gut« ausrufen. Aber in meinem Herzen wusste ich, dass keineswegs alles gut war. Zumindest nicht für mich und meinen schönen, gequälten Mönch.

BERNARD
    Das Priorat war ein Ort des Schweigens, an dem die Zunge stillstand und sich der Blick nach innen kehrte. Der Leidende machte seine Kümmernisse mit Gott und sich selbst aus. Wir schwatzten nicht über unsere Probleme wie die übrige Welt. Wir rangen allein mit ihnen. Ganz gleich, in welchem Aufruhr sich das Herz befinden mochte, nur durch äußere Gelassenheit entging man der Züchtigung und – wage ich tatsächlich, es auszusprechen? – versicherte sich der guten Meinung seiner Vorgesetzten.
    Die Beichte war der einzige Weg, der es uns erlaubte, unsere Gefühle uns selbst und anderen gegenüber zu erforschen. Daher suchte ich sofort nach meiner Rückkehr den Prior auf, damit er mir noch einmal die Beichte abnahm.
    Sobald wir allein waren, vergrub ich mein Gesicht in den Händen und fiel auf die Knie. »Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt! Seit meiner letzten Beichte ist eine Woche vergangen.«
    Vater Hugues kniete sich neben mich und legte seine kalte, trockene Hand auf meine Tonsur. »Wie lautet deine Beichte, Bruder?«
    Ich erzählte ihm, dass ich auf dem Marktplatz eine Frau gesehen und lüsterne Gedanken gehegt hatte. Ich bat um Vergebung.
    Unser Prior war ein guter Mann. Ich beobachtete seine Miene und wartete auf eine Reaktion, aber die blieb aus. Selbstverständlich konnte er nicht wissen, wie sehr ich mich verstellte.
    Er sagte, was er schon tausend Mönchen vor mir gesagt haben muss: »Du bist jung, und derlei Gedanken sind nur natürlich. Sie werden dir von Gott als Herausforderung gesandt. Du musst deine Schuld annehmen und sie als Gelegenheit betrachten, dich zu reinigen.«
    Ich bin sicher, dass er Recht hatte. Kannte denn nicht jeder Mönch das Lied auswendig, das wir zur Vesper sangen, bevor wir uns zur Nachtruhe zurückzogen?
     
    Halt den Alpdruck von uns fern,
    die Nachtangst und das Traumgebilde.
    Tritt den Dämon in den Staub,
    der uns Verderbtheit lehren will.
     
    Der
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