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Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer

Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer

Titel: Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer
Autoren: Gerd Scherm
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zurückkehren, in ein Land, in dem längst die Söhne anderer Väter lebten.
    Mit Schaudern dachte er an den Abend im sagenumwobenen Abydos, wo ihn ein bis dahin unbekannter Gott zu seinem Propheten gemacht hatte. GON, der »Gott ohne Namen«, der nicht wollte, dass man seinen wahren Namen kannte, auf dass ihn keiner aussprechen und ihn beherrschen könne.
    GON war ein kleiner Gott, ein großer hätte auch gar nicht zu ihm, Seshmosis, dem einfachen Schreiber, und der Karawane der Nomaden gepasst. GON liebte es, sich in unterschiedlichen Erscheinungsformen zu materialisieren, um damit künftige Ereignisse anzudeuten. Allerdings war er dabei auf eine gewisse körperliche Größe beschränkt. Genauer gesagt, er konnte die Kleinheit von dreißig Zentimetern nicht überschreiten.
    Seshmosis war es am liebsten, wenn ihm der kleine Gott als Katze erschien, denn dann war nichts Dramatisches zu erwarten. GON litt auch unter einem kleinen Handicap, das er nur ihm, seinem Propheten, verraten hatte: Er war extrem kurzsichtig. Und da ein Gott bekanntermaßen immer nur so weit wirken kann, wie seine Sehkraft reicht, beschränkte sich GONs Aktionsradius auf rund hundert Meter. Aber innerhalb dieser hundert Meter war der Nomadengott wirklich ein Großer, wie Seshmosis des Öfteren erleben durfte.
    Laute Stimmen vor Seshmosis' Zimmer schreckten ihn aus seinen Gedanken. Es dauerte einige Augenblicke, bis seine Erinnerungen der Gegenwart wichen. Richtig, es war die zehnte Stunde, die ›Stunde des Dankes‹. Seshmosis seufzte. Sicher war er GON dankbar, vielleicht dankbarer als jeder andere Tajarim. Ohne den kleinen Gott hätten sie Byblos kaum heil erreicht, ohne seine Hilfe wären sie längst unter den Pfeilen und Schwertern der Ägypter oder der Moses-Anhänger dahingeschieden.
    GON hätte wahrlich einen Tempel zu seiner Verehrung verdient, um ihm jeden Tag zur zehnten Stunde und sogar noch öfter zu danken. Den Dank nahm der kleine Gott gerne an, den Tempel aber wollte er nicht. Er wohnte lieber in einem kleinen, hölzernen Schrein in Seshmosis' Zimmer, das für diesen Schlafraum und Schreibstube zugleich war. Der Raum war sparsam möbliert und beherbergte nicht mehr als das Nötigste: ein schmales Bett, zwei Truhen für Wäsche und Habseligkeiten, ein mit Papyrusrollen und Keilschrifttafeln aus Ton übervolles Regal, einen Tisch und zwei Stühle. Und quasi als einzigen Schmuck eine schlanke Stele mit dem Schrein von GON darauf.
    »Warum?«, fragte Seshmosis die kleine Katze auf dem hölzernen Schrein. »Warum willst du nicht endlich einen eigenen Tempel?«
    »Es ist gut so, wie es ist. Ich habe doch meinen Raum, wo mich die Menschen verehren und mir danken können«, antwortete GON.
    »Aber es ist mein Zimmer!«, lamentierte Seshmosis. »Jeden Tag trampeln die Leute durch mein Zimmer, sitzen auf meinem Bett und bringen meine Sachen in Unordnung. Neulich hat Raffim sogar das Tintenfass über meine Aufzeichnungen geschüttet.«
    Seshmosis hatte sich darüber ziemlich aufgeregt. Außerdem vermutete er, dass Raffim das Tintenfass mit voller Absicht umgekippt hatte, um ihn zu ärgern, und keineswegs aus Versehen, wie er später grinsend behauptet hatte. Raffim, sein Intimfeind und Widersacher auf der Reise von Theben nach Byblos. Raffim, der Krokodilquäler und Devotionalienhändler, Raffim, der Reichste unter den Tajarim, der fette, immer gierige, egoistische und leider stets erfolgreiche Geschäftsmann. Bevor sich Seshmosis weiter in seinen Groll gegen Raffim steigern konnte, unterbrach ihn GON sanft, aber bestimmt: »Öffne endlich die Tür! Meine Gläubigen wollen zu mir.«
    Dann verschwand er mit einem leisen Plop.
    Widerstrebend öffnete der Schreiber die Tür seines Gemachs, und ein gutes Dutzend Leute strömte herein und füllte schnell den kleinen Raum. Seshmosis nickte ihnen zur Begrüßung zu, und dann knieten sie vor dem schlichten hölzernen Schrein nieder, den Schedrach, der Karrenbauer, noch in Ägypten gefertigt hatte. Der Schrein symbolisierte den Dank der Tajarim für ihre Rettung vor dem Tod aller Erstgeborenen während der Ägyptischen Plagen, damals, als der Schlangendämon Apophis die Sonne gestohlen und den Sonnengott Ra in seine Gewalt gebracht hatte. In erster Linie aber diente der Schrein dazu, GON mobil zu machen, denn in der Welt der Menschen konnte er nicht ohne Hilfe reisen. Deshalb hatte der Kasten oben einen Bronzegriff, an dem er getragen werden konnte.
    Jetzt waren die beiden Flügeltüren des Schreins
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