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Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater

Titel: Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater
Autoren: Kai Meyer
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sich der Gehängte hinter ihnen als schwarzer Scherenschnitt abhob.
    Je näher wir kamen, desto deutlicher war er zu erkennen. Als wir unsere Pferde vor ihm zum Stehen brachten, erklang das Knirschen des Astes unter seiner Last als hoher, jammernder Laut. Während der Leichnam sich langsam drehte – mal nach rechts, mal nach links, um dann wieder blitzschnell zurückzuschnellen und uns das Gesicht zuzuwenden –, spürte ich, wie sich mir die Kehle zuschnürte. Es war ein scheußlicher Anblick: Die Zunge des Mannes hing aus seinem Mund bis zum Kinn herab, schwarz und pelzig; seine Augen waren weit aufgerissen und zum Himmel gewandt, als habe er in seinen letzten Momenten vergeblich um Erlösung gefleht. Er mochte wohl seit einem Tag hier hängen, während der knirschende Ast sein Trauerlied sang. Der Vorhang aus Zweigen hatte die Krähen davor bewahrt, sich seiner anzunehmen, und so war sein Körper vollkommen unversehrt geblieben.
    Ich sah erst Angelina an, dann Faustus. Die hellblauen Augen des Borgia-Engels inmitten der schorfigen Narbenwüste ihres Gesichts glänzten, doch aus den erstarrten Zügen war keine Gefühlsregung abzulesen. Sie sagte kein Wort.
    Faustus dagegen lächelte erfreut.
    »Welch wunderbare Gelegenheit«, rief er aus, ohne seine Worte näher zu erläutern. Eine seiner üblen Angewohnheiten.
    Er sprang vom Pferd, schob die herabhängenden Zweige beiseite und tänzelte spinnengleich auf seinen dürren Beinen um den Toten herum. Ein Windstoß brachte den Leichnam erneut in Bewegung. Es sah aus, als drehe er sich mit Faustus, so als wolle er ihn nicht aus den toten Augen verlieren.
    Mein Meister trug wie meist seinen schwarzen Mantel. Das wilde, dunkle Haar wucherte ihm wirr bis auf die Schultern. Sein langes, knöchernes Gesicht war von unnatürlichem Weiß und hob sich daher nur noch deutlicher von seiner schwarzen Umgebung ab. Die meisten Menschen, die von Faustus gehört, ihn aber nie zuvor gesehen hatten, waren überrascht, wenn sie seiner erstmals angesichtig wurden; nicht etwa, weil sein gespenstisches Äußeres seinem Ruf nicht gerecht wurde. Nein, seine Jugend war es, die sie verblüffte. Er mochte kaum sein dreißigstes Jahr überschritten haben, doch die Gerüchte, die über ihn im Umlauf waren, ließen es erscheinen, als sei er ein Greis, der seit Jahrzehnten durch die Lande zog. Nun, sie wurden enttäuscht – von seinem Alter, nicht vom Rätsel seiner Ausstrahlung.
    »Wagner«, wandte er sich an mich, »bist du bereit, etwas Neues zu lernen?«
    Ich zögerte nur einen Herzschlag lang. »Natürlich, Meister.«
    Knapp zwei Monate stand ich nun in seinen Diensten. Seit unseren Erlebnissen auf der Wartburg waren nur wenige Wochen verstrichen. Es war der Sommer des Jahres 1515, ich zählte neunzehn Lenze und war in der Tat begierig darauf, mein Wissen so schnell als möglich zu mehren. Der Anblick der Leiche jedoch und die üblen Ahnungen, welche die makabere Vorfreude meines Meisters in mir heraufbeschworen, ließen mich zweifeln. Ich war keineswegs sicher, ob mir ausgerechnet nach dieser Lektion zumute war.
    Faustus schob den Weidenvorhang mit beiden Händen auseinander und sah mich auffordernd an. »Schneid ihn ab«, gebot er mir.
    Ich wechselte einen letzten Blick mit Angelina, sie zuckte mit den Schultern. Dann stieg ich vom Pferd, schob meinen Dolch zwischen die Zähne und erklomm den Weidenbaum. Wenig später durchtrennte ich das Seil. Der Leichnam fiel schwer zu Boden und blieb mit verdrehten Gliedern liegen.
    Faustus packte ihn an den blutleeren Händen und zog ihn unter dem Baum hervor ins Freie. Ein wenig abseits des Weges rollte er den Toten im hohen Gras auf den Rücken und rief Angelina und mich herbei. Noch einmal sah er sich prüfend um. Die umliegenden Hügel waren menschenleer. Die Weide stand einsam an der festgestampften Straße. Der Wind fuhr noch einmal durchs Geäst; die Spitzen der Zweige wiesen raschelnd nach Osten.
    »Bring mir mein Besteck aus der Satteltasche«, wies Faustus mich an.
    Sein Besteck! Natürlich, was sonst.
    Ich lief zum Pferd, zog die kleine Ledermappe hervor, eilte zurück zu Faustus und reichte sie ihm. Dann trat ich geschwind zwei Schritte zurück. Der Leichnam schien mich vorwurfsvoll anzustarren. Der Tag hatte so hoffnungsvoll begonnen, mit einem kräftigen Frühstück nach einer Nacht im Gasthof. Das war ungewöhnlich, denn meist mieden wir die Herbergen am Wegesrand und schliefen in Heuschobern und unter Brücken. Zum ersten Mal seit Wochen
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