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Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater

Titel: Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater
Autoren: Kai Meyer
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war ich ohne die Angst vor Verfolgern erwacht.
    Und nun das!
    Du bist jetzt ein Zauberlehrling, redete ich mir aufmunternd zu. Besser, du gewöhnst dich an dergleichen.
    Faustus zog ein scharfes Messer aus der Mappe und ließ es im Sonnenlicht aufblitzen. »Habt Ihr je das Innere eines Menschen gesehen?« fragte er.
    Zu meinem Erstaunen nickte Angelina. Dann begriff ich, woher ihr Wissen rührte: Sie mußte mehr als einen Menschen aufgeschlitzt haben, vielleicht schon während der Jahre ihrer Ausbildung, gewiß aber in den vergangenen Wochen. Ihr zierlicher Körper täuschte über die Kraft hinweg, die sich darin verbarg. Nie zuvor hatte ich jemanden getroffen, der so geschickt mit den verschiedensten Waffen umging wie die falschen Engel des Borgia. Nicht einmal Faustus, gleichfalls geübt im Umgang mit dem Schwert, hätte es mit einem von ihnen aufzunehmen vermocht, auch nicht mit der schmalen, so zerbrechlich wirkenden Angelina.
    Faustus lächelte sie an. »Vielleicht kannst du trotzdem noch etwas lernen. Und du, Wagner, schau genau zu…«
    Mit diesen Worten riß er dem Toten das schmutzige Hemd vom Leib und führte einen tiefen Schnitt vom Brustbein bis zur Scham. Er rammte beide Hände in die Wunde und brach mit einem angestrengten Keuchen den Rippenkäfig auseinander. Ein furchtbarer Geruch stieg auf und betäubte meine Sinne. Ganz zu schweigen von dem Anblick, der sich mir bot.
    Faustus öffnete den Oberkörper zur Gänze und begann ungerührt, ein Organ nach dem anderen zu entnehmen. Prüfend wog er sie in der Hand und gab weitschweifige Erklärungen über Namen und Aufgaben im menschlichen Körper. Einmal forderte er mich auf, einen blasigen, glitzernden Fleischklumpen zu berühren. Zum ersten Mal widersetzte ich mich seinem Willen, auch auf die Gefahr einer Rüge hin, doch Faustus lächelte nur und legte das Organ beiseite.
    »Ich fürchte, Wagner, du weißt dein Glück gar nicht zu schätzen«, sagte er und wühlte weiter in dem Leichnam. »Du hast keine Vorstellung, wie erbärmlich solche Lektionen an den Hohen Schulen durchgeführt werden. Der Lehrer steht hoch auf dem Podium und doziert mit sichtlicher Verachtung über Tatsachen, die er aus eigener Erfahrung nicht kennt, denn ein anderer, der Bader, muß derweil die Sektion der Leiche vornehmen. Die Lehrer machen sich die Finger nicht schmutzig, sie haben ihr Wissen aus Büchern gelernt und beten es demgemäß trocken herunter. Schlimmer noch, viele lesen ihre Stoffe nur ab. Die Bader aber, welche die Autopsie durchführen, sind so unwissend, daß sie nicht in der Lage sind, den Schülern die präparierten Teile zu zeigen und zu erklären. Und da der Lehrer die Leiche nicht berührt, der andere aber die lateinischen Bezeichnungen nicht kennt, arbeitet jeder auf eigene Faust, was zu einem schrecklichen Durcheinander in der Reihenfolge des Vortrags führt. Auf diese Weise wird der Unterricht zum schlechten Scherz, und der Student lernt weniger, als ein Metzger den Professor lehren könnte.«
    Ich nickte und tat, als stimmte ich Faustus in allem zu. Freilich zweifelte ich nicht an seinen Worten; und doch wäre mir die Weite eines Vorlesungssaales zwischen mir und der Leiche lieber gewesen, als gleich danebenzustehen, während mein Meister sie zerlegte.
    Nachdem Faustus seine fachmännische Ausschlachtung beendet hatte, stand er auf und sagte: »Du kannst das jetzt forträumen.«
    »Forträumen, Herr?« fragte ich hilflos.
    Er nickte ernsthaft. »Leg alles zurück in den Körper. Und dann begrabe ihn. Der gute Mann hat uns einen Dienst erwiesen, damit hat er sich ein anständiges Begräbnis verdient.«
    Erst glaubte ich, mein Meister erlaube sich einen Scherz, dann aber begriff ich, daß er seine Worte todernst meinte. Stöhnend blickte ich hinab auf das, was von dem Leichnam übriggeblieben war, und auf den rotbraunen Haufen, den mein Meister daneben aufgeschichtet hatte.
    Faustus ging zurück zu den Pferden, ohne sich noch einmal nach mir umzusehen. Still vor mich hinfluchend machte ich mich ans Werk. Voller Todesverachtung begann ich, die Eingeweide mit bloßen Händen zurück in den offenen Leichnam zu schaufeln. Zu meinem Erstaunen ging Angelina neben mir in die Knie und half mir. Ohne Zögern griff sie in die feuchte Masse und hob sie in die Wunde. Dann schabten wir Dreck und Gras zusammen und verteilten beides über dem Toten, bis er notdürftig bedeckt war.
    Faustus saß schon im Sattel, als wir den Weidenbaum erreichten. Unsere Hände und Arme
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