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Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater

Titel: Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater
Autoren: Kai Meyer
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einem menschlichen Oberkörper, der wiederum in ein dünnes Beinpaar mündete, das den Rest des Stabes formte. Das Ganze wirkte wie ein Körper, den man mit Gewalt auf das Vielfache seiner Länge gezerrt hatte. Der Stab war mit einiger Kunstfertigkeit geschnitzt worden.
    Ich gab ihn zurück an Faustus.
    »Es ist ein Anubiszepter«, sagte er. »Weißt du, wer Anubis ist?«
    Ich schüttelte wortlos den Kopf.
    »Anubis ist der Totengott der Ägypter. Sein Kopf ist der eines Hundes oder Schakals, eine Art Wolf, der sich vom Leichenfraß ernährt. Man findet ihn nicht in unseren Gegenden, aber südlich und östlich des Meeres streift er durch die Steppen und Wüsten.«
    »Dann ist Mephisto ein solcher Wolfshund?«
    Faustus zögerte, wenngleich nur für einen Augenblick. »Ja und nein. Er sieht zweifellos aus wie einer. Und doch ist er viel mehr.«
    Eine Erinnerung überkam mich: Faustus, wie er von den Zinnen der Wartburg mit Mephisto sprach, der unten am Fuß der Mauern stand. Aber es war kein Gespräch mit Worten, sondern eines, das allein in ihren Gedanken stattfand. Damals hatte Mephisto uns vor den anrückenden Borgia-Engeln gewarnt.
    Faustus fuhr fort: »Anubis war einst der Herr des Totenreiches, bis ihn der Gott Osiris von seinem Thron verdrängte. Nun wacht er in den Gräbern und gebietet beim Totengericht über die Wägung der Herzen. Und obgleich er doch die Herrschaft über das Land der Toten verloren hat, so obliegt ihm die Macht über Leben und Sterben – er entscheidet, wer geht und wer bleibt.« Faustus’ Hände spielten unsicher mit dem hölzernen Zepter. »Der Traumvater ist uralt, und doch besitzt er den Leib eines jungen Mannes. Nun, Wagner, was glaubst du, wer ihm diese Gunst gewährt hat?«
    Es war keine ernstgemeinte Frage, und ich mußte ihm keine Antwort geben. Wir kannten sie alle drei.
    »Der Traumvater ist trotz all seiner Kräfte ein Mensch, und Menschen sterben«, sagte Faustus. »Er hat sich nie damit abgefunden. So schloß er einen Pakt mit Anubis und kaufte sich frei vom Tod. Ein schwarzer Hund wacht seither über sein Tun und folgt ihm auf jedem seiner Wege.«
    Ich starrte meinen Meister entgeistert an, doch er mied meinen Blick.
    »Lieber Himmel!« flüsterte ich betroffen. »Der Traumvater war nicht der erste, der diesen Pakt geschlossen hat, nicht wahr?«
    Faustus blickte reglos ins Feuer und schwieg. Schließlich hob er das Anubiszepter und fuhr mit den Fingerspitzen über den schwarzen Schädel, sehr langsam, fast zärtlich. Einen Moment lang sah es aus, als wollte er den Stab in die Flammen werfen, dann aber legte er ihn behutsam beiseite.
     
    Hinter den Hügeln riß Mephisto den Kopf empor und beweinte den toten Mond.
     

ENDE
    des zweiten Bandes

Nachwort des Autors
    Den Namen Mephisto kennt heutzutage jeder, spätestens Goethe hat ihn sprachgewaltig in alle Schulzimmer getragen. Die meisten wissen, daß er der teuflische »Schwager« des Faustus war, ein Dämon, dem der Doktor seine Seele verkaufte im Austausch gegen Jugend, Wunscherfüllung und eine Nacht mit der Schönen Helena (je nach Bearbeitung des Stoffes erhielt Faustus nur einen oder auch jeden dieser Preise).
    Vergessen ist dagegen der mysteriöse Hund an der Seite des Doktors. Trotzdem gehörte er als wichtiges Element zur ursprünglichen Faust-Legende. So schrieb im Jahre 1548 Johannes Gast, ein Baseler Pfarrer, der als erster die Nachricht vom Tode des Doktors verbreitete: »(Faustus) hatte einen Hund und ein Pferd bei sich, die, wie ich glaube, Teufel waren, da sie alles verrichten konnten. Einige sagten mir, der Hund habe zuweilen die Gestalt eines Dieners angenommen und ihm Speise gebracht.«
    Ein ganzes Kapitel widmet Georg Rudolf Widmann dem unheimlichen Tier in seiner 1599 erschienenen Sammlung Wahrhaftige Historien von den greulichen und abscheulichen Sünden und Lastern, auch von vielen wunderbarlichen und seltsamen Abenteuern so D. Johann Faustus hat getrieben.
    Ein Auszug: »Unter anderen aber sah er gleichwohl (an Faustus’ Seite) einen großen, schönen schwarzen zottigen Hund, der ging auf und nieder (…) und als er sich wollt mitten in die Stuben legen, da redet D. Faustus ein Wort, welches er nit verstund, alsbald ging der Hund vor die Stubentür und tat sich die Tür selbst auf, er gedacht gleichwohl, es wird nichts Natürlichs sein. (…) Seine Augen waren ganz feuerrot und ganz schrecklich anzusehen, und ob er gleichwohl schwarzzottig war, doch wenn er ihm mit seiner Hand auf den Rücken
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