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Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater

Titel: Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater
Autoren: Kai Meyer
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Entfernung gewesen, doch er wagte nicht, sich schneller zu bewegen. Das Geräusch seiner Stiefel auf dem Boden hätte den anderen gewarnt.
    Ich blickte an meinem Körper herab und konnte ihn zum ersten Mal wieder sehen. Der Fackelschein schmiegte sich matt um meine Kleidung. Jetzt war ich auch für den Mörder zu erkennen. Ich hoffte inständig, daß er gerade in eine andere Richtung blickte.
    Faustus streckte beide Arme aus. Er konnte endlich sehen, wer es war. Seine Ahnung bestätigte sich.
    Ich stürzte mich mit einem gewagten Sprung auf eine der Fackeln, ungeachtet des Lärms, den ich dabei verursachte, hob sie auf und schleuderte sie in weitem Schwung auf die andere Seite des Grabens. Mit wehenden Flammen flog die Fackel über das Wasser hinweg und fiel unweit der diffusen Gestalt zu Boden. Für die Dauer eines Herzschlages stand ich inmitten des Lichtkreises der verbliebenen Fackeln. Fassungslos starrte ich aufs andere Ufer. Ich sah jetzt, wer dort stand, und konnte es doch nicht glauben.
    Faustus hatte seinen Gegner erreicht. Seine Hände schwebten beinahe über den Schultern des anderen, ohne daß der es bemerkte. Im selben Moment aber, in dem ich in den Lichtkreis der Fackeln sprang, fuhr der Mörder herum. Die Hände meines Meisters griffen ins Leere. Die Büchse wurde hochgerissen, zeigte in die Richtung der Fackeln.
    Ich stand da wie versteinert. Die Gestalt am anderen Ufer war erschrocken zusammengezuckt, als die Fackel auf sie zugeflogen und vor ihren Füßen aufgeprallt war. Wimmernd ging sie in die Hocke. Der weiße zierliche Körper war von zahllosen Bißwunden entstellt, Blut lief in Strömen über die zarten Glieder. Das Zwillingsmädchen mußte durch den Graben geschwommen sein, ungeachtet der angreifenden Schlangen im Wasser. Sein Kleidchen war verschwunden; vielleicht hatte es es abgestreift, oder aber die Schlangen hatten den hauchdünnen Stoff zerrissen. Jetzt sah ich auch, daß das Mädchen etwas in Händen hielt. Etwas, das glitzerte wie pures Gold.
    »Nicholas!« schrie hinter mir eine Stimme. Und: »Wagner, runter!«
    Ich ließ mich fallen. Im selben Augenblick krachte ein Schuß. Ein schneidender Schmerz raste durch meine linke Schulter. Blut sprühte über mein Gesicht. Der Mündungsblitz der Büchse blendete mich. Ich stürzte zu Boden und blieb benommen neben einer Fackel liegen. Die Hitze biß in meine Wange, doch das Brennen in meiner Schulter war schlimmer. Ich tastete nach der Wunde und fand eine blutige Schneise, die die Kugel durch meine Haut gepflügt hatte.
    Neben mir wurde Lärm laut. Mühsam öffnete ich die Augen, zog mich erschrocken von der nahen Fackel zurück und blickte über sie hinweg ins Dunkel.
    Am Rande des Lichtkreises hatte sich Faustus auf den Schützen gestürzt. Es war tatsächlich Nicholas, den ich doch mit eigenen Augen in seiner Zelle hatte verbrennen sehen. Bereits der dritte, der scheinbar von den Toten auferstanden war. Doch solcherlei Erkenntnisse erstaunten mich nicht länger. Es würde eine Erklärung dafür geben. So wie für Delphine. Und für das Zwillingsmädchen.
    Ein Schatten huschte auf mich zu. Plötzlich war Angelina über mir, betrachtete die Wunde und sprang dann auf die beiden Kämpfenden zu.
    Nicholas gelang es, Faustus für einen Augenblick abzuschütteln. Fast gleichzeitig riß er ein langes Messer aus seinem Gürtel, glühend im Licht der Fackeln. Die Klinge schoß vor und verfehlte das Gesicht meines Meisters. Faustus bückte sich unter dem Messerstoß hindurch und schlug seinem Gegner die geballte Faust in den Magen. Im selben Augenblick stürzte sich Angelina von hinten auf Nicholas. Die Klinge segelte in weitem Bogen davon.
    Dann war es vorbei. Angelina riß Nicholas beide Arme auf den Rücken, einer brach mit vernehmlichem Bersten. Der Musiker schrie auf, doch Angelina preßte den unversehrten Arm nur noch höher, bis Nicholas seine Gegenwehr aufgab. Mit wutverzerrter Fratze hing er im Griff des Borgia-Engels und sah uns der Reihe nach haßerfüllt an.
    Dann plötzlich raste sein Blick hinüber zum anderen Ufer. »Ins Wasser!« schrie er dem Mädchen zu. »Ins Wasser!«
    Die Kleine sah ihn aus großen Augen an, während das Blut in zahllosen Rinnsalen über ihren Körper lief. Das lange schwarze Haar klebte ihr auf Schultern und Gesicht. Sie wirkte unsagbar hilflos.
    Zitternd machte sie einen Schritt nach vorne, dann noch einen. Es dauerte einen Moment, dann begriff ich, daß ihr Schwanken kein Ausdruck ihres Zögerns war – es
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