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Die Naschmarkt-Morde

Titel: Die Naschmarkt-Morde
Autoren: Gmeiner-Verlag
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gemütlich an das Buffet gelehnt, sein Bier trank und seinen Blick herumschweifen ließ, sah er eine bekannte Gestalt: Anastasius Schöberl, den Fleischhauer-Gesellen. Dieser bedrängte in einer Mauernische ein noch sehr junges Dienstmädchen. Nechyba wollte schon einschreiten, als sich das Mädchen aus der Umarmung Schöberls befreien und flüchten konnte. Dabei bekam sie einen Faustschlag ab sowie einige Obszönitäten nachgerufen. Nechybas Augen wurden schmal, seine Hände formten sich zu Fäusten und eine Verwirrung überkam den Inspector. Es sträubte sich etwas in ihm, zu akzeptieren, dass der fröhliche Fleischhauergeselle, der ihm immer die besten Stücke gab, zu solch miesen Handlungen fähig war. Plötzlich schmeckte das Bier schal, eine dunkle Wolke verhüllte den dunstigen Sommerhimmel, und er fühlte sich irgendwie fehl am Platz. Er zahlte und ging zügigen Schrittes zurück ins Büro.

VIII.
    Als Leo Goldblatt kurz nach 2 Uhr mittags endlich an seinem Arbeitsplatz erschien, war es totenstill. Die mittägliche Redaktionssitzung war anscheinend schon vorbei, die Fenster standen sperrangelweit offen, und feuchte, dunstige Luft strömte in die Redaktionsräume. Goldblatt zog sich in sein Redakteurskammerl zurück und zog die Schuhe aus. Denn seine Füße schwollen bei plötzlichen Wärmeeinbrüchen immer an und schmerzten. Er lümmelte sich in seinen Sessel und griff zu den wenigen Zetteln, die ihm der Redaktionsgehilfe auf den Schreibtisch gelegt hatte. Die Beine hochgelagert, begann er die Zettelwirtschaft zu sichten. Doch das richtige Maß an Konzentration wollte sich nicht einstellen. Erstens war er heute ziemlich angeschlagen, zweitens freute ihn die Arbeit überhaupt nicht, und drittens verdaute sein Magen gerade das Gulasch, das er mittags zu sich genommen hatte. Die Verdauungsarbeit äußerte sich in peristaltischen Geräuschen. Dieser enormen Geräuschentwicklung stand er äußerst zwiespältig gegenüber. Einerseits folgte jedem Rülpser ein kolossales Gefühl der Erleichterung. Andererseits verstieß diese Art, sich zu erleichtern, gegen alle Regeln, die der gutbürgerlich aufgewachsene und streng erzogene Leo Goldblatt in seiner Kindheit verinnerlicht hatte.
    »Ja, ja, die Mama …«, seufzte Goldblatt laut. Die Mama sollte er auch wieder einmal besuchen. Wann war er das letzte Mal bei ihr gewesen? Letzte Woche oder gar vorletzte Woche? Gott möge abhüten! Wenn er sich über eine Woche nicht bei seiner Mutter blicken ließ, dann gab es beim nächsten Mal ein Donnerwetter, das sich gewaschen hatte. Ja, ja, die Mama … eine alte Dame, die hoch in den Siebzigern stand. Goldblatt musste sich zu seiner Schande eingestehen, dass er nicht einmal genau wusste, ob sie nun 77 oder schon 78 Lebensjahre zählte. Sie lebte in einer herrschaftlichen Wohnung im zweiten Wiener Gemeindebezirk. Der von Donau und Donaukanal umgebene Bezirk beherbergte nicht nur das ehemalige kaiserliche Jagdrevier, den Prater, das seine Majestät Kaiser Joseph II. anno 1766 allen Bewohnern Wiens als Erholungsgebiet zugänglich gemacht hatte, sondern war auch traditionelle Heimstätte eines Großteils der jüdischen Bevölkerung Wiens. Deshalb wurde er auch Mazzesinsel genannt.
    Mazzes, das dünne, fladenartige jüdische Brot, hatte es bei seinen Eltern im Haus nie gegeben. Denn sein Vater, der mittlerweile verstorbene Kinderarzt Doktor David Goldblatt, hatte eine ausgeprägte Abneigung gegen Religion im Allgemeinen und gegen jüdisches Brauchtum im Besonderen. Als klassischer Liberaler glaubte David Goldblatt in erster Linie an den Fortschritt und an eine aufgeklärte, von Vorurteilen, Aberglauben, Brauchtum und Religion befreite Gesellschaft. Und so wuchs Leo Goldblatt statt mit Mazzes mit reschen Kaisersemmeln, Mohnstriezerln, Salzstangerln, Wachauer Laibchen und gestaubten Wecken 17 auf. Ein Luxus, den er erst später zu schätzen lernte, als er sich als Studiosus der Germanistik sowie als Gelegenheitsschreiber für diverse Wiener Blätter mehr schlecht als recht durchs Leben fristete.
    »Ach Gott, die Mama …«, seufzte Goldblatt wieder. Er erinnerte sich an ihr sorgenvolles Gesicht, als er nach einem heftigen Streit mit seinem Vater – wegen des Abbruchs seines Medizinstudiums und wegen des Umsattelns auf das brotlose Studium der deutschen Sprache – aus dem elterlichen Haushalt Knall auf Fall ausgezogen war. Wortlos hatte sie ihm damals noch ein Proviantbündel mit Buttersemmeln und Äpfeln zugesteckt. »Um die Mama
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