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Die Naschmarkt-Morde

Titel: Die Naschmarkt-Morde
Autoren: Gmeiner-Verlag
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Haselsträucher, Hagebutten- und Hollerstauden. Den Holler krönten noch unreife, grüne Holunderbeeren, die an vom Sturm umgedrehte Parapluies erinnerten. Sie verströmten einen feinherben Duft, der auch später – am Ende des Sommers – den dunklen Hollerbeeren eigen ist.
    Endlich erreichten Weininger und Schönthal-Schrattenbach den höchsten Punkt – den Himmelhof. Dieser lag zwar nicht im Himmel, hieß aber trotzdem so. Sie sahen zu ihrer Linken den Höhenzug des Wienerwaldes, dessen ferne Gipfel im Dunst verschwanden. Rechter Hand erstreckte sich die weite, von Dunst bedeckte Ebene des Wiener Beckens. Ihnen zu Füßen lag das Häusermeer der Stadt, und auf einer Anhöhe gegenüber befand sich die kaiserliche Sommerresidenz Schloss Schönbrunn. Otto Weininger riss sich – wie es seiner emotionalen Art entsprach – die Jacke vom Leib, schleuderte den Hut in die Luft und rief, beide Hände zu einem Trichter formend: »Ich liebe dich!«
    »Was, wen, wieso …?«, keuchte der Baron, »wen liebst du? Den Himmelhof? Den heutigen Tag? Das schwüle Wetter? Unsere Wiener Stadt? Den Herrgott? Oder am Ende nur irgend so ein Mädel, das du kennengelernt hast?«
    »Geh, Aloysius … Du weißt doch, wie ich über Frauen denke. Nein, meine Liebeserklärung galt diesem einen Augenblick, als wir die Höhe bezwungen hatten und der Blick auf unsere wunderschöne Heimatstadt vor uns lag. Diesem unglaublichen Glücksgefühl, diesem heroischen Moment nach vollbrachter Anstrengung galt meine Liebeserklärung.«
    »Ja, ja, verweile, Augenblick, du bist so schön …Wobei ich persönlich glaube, dass der Goethe das eher auf einen Augenblick in den Armen eines weiblichen Wesens bezogen hat.«
    »Siehst du, genau das ist die Krankheit, an der die gesamte männliche Menschheit laboriert. Der unglückselige Drang nach Vermischung von Männlichem und Weiblichem. Ein Mann, der seinen Genius zu voller Entfaltung bringen will, muss meiner festen Überzeugung nach das Weibliche meiden und Frauen verabscheuen.«
    »Vielleicht hast du recht mit deiner Theorie … Wenn ich an die Situation bei uns zu Hause denke, stößt mir gleich wieder das Mittagessen auf. Ich sage dir, seitdem meine Cousine bei uns wohnt, habe ich einen nervösen Magen. Stell dir vor: Sie hat eine Affäre mit einem Burschen vom Naschmarkt. Mit einem frechen und unverschämten Individuum. Der hat doch glatt meiner Cousine ein Brieferl zustellen lassen, in dem er ihr mit einem Skandal droht, falls sie ihm nicht ein weiteres Rendezvous gewährt. Zufällig habe ich das Mädel, welches das Brieferl überbracht hat, abgefangen. Zuerst wollt ich das Geschreibsel vernichten, aber dann habe ich mich beherrscht – weil, das tut man einfach nicht. Ich habe es wieder zugeklebt und meiner Cousine aufs Zimmer gelegt. Quel scandale!«
     
    Während der Baron gedanklich seiner familiären Misere nachhing, entwickelte Otto Weininger in einem ununterbrochenen Redeschwall seine Vorstellungen von Geschlecht und Charakter. An einer Stelle des Exkurses ließ er einfließen, dass er zu diesem Thema eine grundlegende philosophische Untersuchung geschrieben und für die Publikation einen renommierten Verlag gefunden hatte.
     
    Schönthal-Schrattenbach kannte dieses Monologisieren seines Schulfreundes. »Dessen Sorgen möchte ich haben«, dachte er bei sich und grübelte über seine eigenen Kümmernisse nach. Es bedrückte ihn nicht nur, dass seine Mutter und seine Cousine daheim die Hosen anhatten – Letztere aufgrund ihres unverschämten Reichtums –, sondern auch, dass er wahnwitzig hohe Spielschulden hatte. Er stand finanziell mit dem Rücken zur Wand. Diese Probleme wälzend, lag er oben am Himmelhof in der Wiese, kaute an einem Grashalm und blickte verdrossen auf die ihm zu Füßen liegende, von einem Dunstschleier verhüllte Wienerstadt.

VII.
    Gemütlichen Schrittes schlenderte Joseph Maria Nechyba, nachdem er sich von Leo Goldblatt verabschiedet hatte, über den Naschmarkt. Nicht dass dies unbedingt zu den Aufgaben eines Inspectors des k. k. Polizeiagenteninstituts gezählt hätte – als solcher war er vielmehr für den Papier- und Verwaltungskram zuständig, der keinem leitenden Beamten erspart blieb. Trotzdem gehörten Spaziergänge durch die Stadt zu seinen liebsten Gewohnheiten. Den Papierkram erledigte der Polizeiagent Pospischil. Ein Mensch mit verkniffenen Gesichtszügen, schlaksiger Figur und sanguinischem Temperament, der brav das ausführte, was ihm sein Vorgesetzter
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