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Die Naschmarkt-Morde

Titel: Die Naschmarkt-Morde
Autoren: Gmeiner-Verlag
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muss ich mich wieder einmal kümmern …«, murmelte er.
    Plötzlich legte hinter ihm Leopold Lipschütz mit einem lauten Räusperer und voller Stimme los: »Leo, du Tachinierer 18 , zuerst bist du den ganzen Vormittag und Mittag verschollen und jetzt sitzt du da und träumst von deiner Frau Mama. Hast du das letzte bisschen Verstand verloren? Du warst sicher wieder besoffen wie ein Eckhaus. Und jetzt hast einen Kater, dass du keinen klaren Gedanken fassen kannst. Geschweige denn einen Artikel schreiben …«
    Goldblatt drehte sich zu seinem leitenden Redakteur um, ohne dabei die Füße vom Schreibtisch zu nehmen, und raunzte: »Geh, spiel dich nicht so auf … Wie oft warst du denn schon besoffen? Da bist du durch die Redaktion getorkelt, dass wir Wetten auf das nächste Möbel abgeschlossen haben, an das du anrennen wirst. Also sei so gut und lass mich in Ruh!«
    »Das könnte dir so passen, Leo! Aber ich sag dir: Ich brauch für die Seite fünf noch einen Artikel. Wurscht, was. Schreib irgendwas von den Huren und ihren Zuhältern am Graben, auf der Kärntnerstraße oder am Naschmarkt. Oder von weiß der Teufel was … Ich bitte dich, schreib mir schleunigst einen Artikel.«
    »Was soll ich denn schreiben? Es ist im Moment nix los … Außerdem brummt mir der Schädel …«
    »Wenn ich nicht in einer Viertelstunde einen Artikel von dir habe, beschwere ich mich beim Herausgeber. Also schreib!«
    Und damit war Lipschütz schon wieder fort. Goldblatt aber nahm seufzend die Füße vom Tisch, griff zu einem Bleistift, nahm ein Blatt Papier, starrte kurz darauf und schrieb dann einen Artikel über eine Rauferei zwischen Gästen, deren Zeuge er im Zuge seiner Wirtshaus- und Beislrunde am Vorabend geworden war. Als er diesen 20 Minuten später Leopold Lipschütz in die Hand drückte, grunzte der zufrieden und trollte sich damit in die Bleisetzerei. Goldblatt hatte nun das Gefühl, für diesen Tag genug gearbeitet zu haben. Beschwingt ging er – immer noch in Socken! – in sein Redakteurskammerl zurück, zog sich dort die drückenden Schuhe an und begab sich in Gefilde, in denen er sich grundsätzlich wohler fühlte als an seinem Arbeitsplatz: in die Räumlichkeiten des Café Sperl.

IX.
    Ein kleines Schönheitsschläfchen gönnte sich die Gräfin Hainisch-Hinterberg nach einem späten Frühstück besonders gerne. Diesem Vergnügen frönte sie ganz ungeniert, speziell, seitdem sie in Wien bei ihrer Tante logierte. Die Tante – eine geborene Hainisch-Hinterberg und nunmehr verwitwete Baronin von Schönthal-Schrattenbach – war eine herzensgute Frau, die bei der Erziehung ihrer Nichte dem Laisser-faire-Prinzip huldigte. Aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen als junges Mädchen war die Baronin sehr tolerant. Seinerzeit war ihre Liaison mit Friedrich Schönthal als nicht standesgemäß erachtet und von vielen angefeindet worden. Sie konnte diese Verbindung dennoch – aufgrund des ansehnlichen Reichtums Friedrich Schönthals – gegenüber ihren Eltern durchsetzen. Dieser war ein erfolgreicher Bauunternehmer, der Anfang der 1870er-Jahre von Kaiser Franz Joseph in den Adelsstand erhoben worden war 19 . Leider hatte sich das Vermögen des nunmehrigen Barons Schönthal-Schrattenbach beim Börsenkrach 1873 sowie in den darauf folgenden Jahrzehnten fast zur Gänze in Luft aufgelöst. Als er 1899 starb, hinterließ er seiner Familie die herrschaftliche Wohnung in der Fichtegasse, einige wertlose Aktienpakete sowie einen Stapel uneinbringlicher Forderungen. Seine Witwe musste sich nun an ihre zum Teil sehr wohlhabenden Verwandten wenden und sie um Unterstützung bitten.
    Ihrem einzigen Sohn, Aloysius Schönthal-Schrattenbach, war das herzlich wurscht. Er lebte weiterhin in Saus und Braus. Ohne Schamgefühl verprasste er das Geld, das sich seine Mutter von der Verwandtschaft erbettelte. Irritiert reagierte der verwöhnte Bengel, als im familiären Mikrokosmos ein zweites strahlendes Gestirn aufging: Seine Cousine, die Gräfin Hainisch-Hinterberg, verstand es, die Aufmerksamkeit und Zuwendung seiner Mutter auf sich zu ziehen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil sie den familiären Haushalt großzügig finanziell unterstützte. Außerdem verstand sie es, ihr Dasein als Vollwaise dramatisch in Szene zu setzen: Tagelang wurde sie von düsteren Depressionen geplagt und erweckte damit bei ihrer Tante heftiges Mitleid. Sie pflegte einen faulen, somnambulen Lebenswandel, der sich mit wild aufflackernden Exzessen abwechselte. Legendär waren auch
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