Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Narbe

Die Narbe

Titel: Die Narbe
Autoren: Frank Schmitter
Vom Netzwerk:
jüngeren Jahren ein Kraftpaket gewesen sein musste. Das Gesicht mit der breiten Nase, der unreinen Haut und dem Doppelkinn wirkte stumpf, aber nicht unfreundlich.
    »Herr Müllersohn?« Gerald zeigte seinen Dienstausweis.
    »Geht es um den Alexander?«
    Gerald wurde erst in diesem Moment bewusst, dass er den Namen des Toten nicht kannte.
    »Um den jungen Mann, der gestern Abend …«
    Der Hausmeister nickte und drückte die Wohnungstür auf. »Gleich nach rechts, bitte schön.«
    Gerald betrat das Wohnzimmer, in dem der Fernseher, groß wie ein Aquarium, die Mitte einer dunkelbraunen Schrankwand einnahm. Gerade lief eine Talkshow, in der ein junger Mann, dessen Stirn durch Silikonimplantate zwei bläulich schimmernde, rechteckige Wölbungen aufwies, einen anderen Mann mit einem naturbelassenen Gesicht vor einem grölenden Publikum beschimpfte. Der Hausmeister wies Gerald einen Ledersessel zu, er selbst setzte sich auf die Couch und schaltete mit der Fernbedienung den Ton aus. Kein Bild hing an den schlicht geweißten Wänden, was der klobigen Schrankwand eine erdrückende Wucht verlieh. Auf dem Wohnzimmertisch lag ausgebreitet auf der Doppelseite einer Tageszeitung eine Zigarettendrehmaschine sowie eine Großpackung Tabak, Zigarettenpapier und Filter. Die Krümel auf der Zeitung verrieten, bei welcher Tätigkeit Gerald den Mann gestört hatte.
    »Es wird ja nichts billiger«, sagte der Hausmeister, der Geralds Blick bemerkt hatte, und schob die Zeitung ein Stück zur Seite. Er griff zur Bierflasche, die auf dem Boden neben der Couch stand, und stellte sie auf den Tisch.
    »Wie wär’s? Soll ich ein Glas holen?«
    »Danke. Nicht im Dienst.«
    Mit einem breiten Grinsen wies der Mann auf das Etikett: Alkoholfrei. »Ich war auf dem Bau, mehr als dreißig Jahre. Ja, der Sohn vom Müller ist Polier geworden, sag ich immer. In den alten Zeiten hat jeder auf der Baustelle einen Kasten pro Tag runtergekippt. Hier brauche ich das nicht mehr. Nur abends mal ein, zwei echte. Aber ich mag den Geschmack von dem Schaum, wenn das Bier im Mund hin- und herspült. Gluck, gluck, sagt das Leben. Einfach herrlich, verstehen Sie?«
    Gerald nickte beiläufig, um das Thema nicht zu vertiefen.
    »Es ist ein reiner Routinebesuch, Herr Müllersohn. Die Kollegen von der Streife waren ja gestern Abend schon hier, aber jetzt liegt der Fall auf meinem Schreibtisch. Ich möchte Ihnen nur noch ein paar Fragen stellen, und dann haben Sie wieder Ihre Ruhe.«
    »Die lass ich mir auch von keinem mehr nehmen, Herr Kommissar. Dreißig Jahre auf Baustellen, Akkordarbeit, brüllende Bauleiter, brüllende Kranführer, brüllende Lieferanten. Das ist jetzt vorbei!«, sagte Müllersohn und griff zu einer der bereits fertigen Zigaretten. Die Tabakkrümel auf der Zeitungsunterlage sahen aus wie eine Schar Ameisen.
    »Wann haben Sie Alexander zuletzt gesehen?«
    Der Hausmeister hob die schweren Schultern und schnaufte leicht.
    »Vor drei, vier Tagen. Ich habe im Treppenhaus gearbeitet, als der Alexander aus der Wohnung kam. Wir haben uns kurz unterhalten.«
    »Kannten Sie ihn gut? Besser als andere Mieter?«
    »Ich habe vier Häuser in der Lindwurmstraße zu betreuen. Von manchen Mietern kennt man nur das Namensschild, andere sieht man regelmäßig. Den Alexander kannte ich besser. Mein Schwager hat eine kleine Firma, müssen Sie wissen, und der Alexander hat für ihn gearbeitet und da so was gezeichnet, wo der Name der Firma drinsteht, ich komme gerade nicht drauf.«
    Die Hand mit der Zigarette fuhr in die Luft und machte kreisende Bewegungen.
    »Ein Logo?«
    »Genau. Wie Lego, so habe ich mir das merken wollen.« Der Hausmeister lachte auf. »Hätte ja fast geklappt. Der Alexander war so eine Art Künstler. Der hat das ja auch studiert. Keine Ahnung, wie genau das hieß, jedenfalls irgendetwas mit Werbung und so.«
    »Grafikdesign, vermutlich. Und wie war der Alexander als Mensch? War er oft allein? Hatte er Freunde? Eine Freundin?«
    Müllersohn stierte einen Moment in den Fernseher, wo eine Frau mit einem langen Metallstift im Ohr und einem gepiercten Metallring mitten auf der Stirn dem Publikum einen Stinkefinger zeigte. Dann trank er einen Schluck und ließ sich wieder gegen die Lehne fallen.
    »Freunde? Frauen? Weiß nicht so richtig. Still war er. Immer freundlich, hat nie Krach gemacht oder laute Musik in seiner Wohnung gehabt, aber irgendwie war er bedrückt und verschlossen. Wie soll ich es sagen? Mehr so eine Traurigkeit von innen, verstehen Sie?
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher