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Die Narbe

Die Narbe

Titel: Die Narbe
Autoren: Frank Schmitter
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schützen. Überall in den Hügeln lauern die Indianer und warten nur darauf zuzuschlagen.«
    Sie brummte etwas, das wie »typisch Mann« klang. Dann streichelte sie kurz über seinen Unterarm. Severins Atem war tief und gleichmäßig, er wirkte weniger gequält als in den letzten beiden Tagen, obwohl die Gesichtshaut noch stark gerötet war.
    »Wo warst du eigentlich?«
    »Im Kino. Das ist billiger als ein Hotel, nur unbequemer.«
    »Welcher Film?«
    »Der, der anfing, als ich an der Kasse stand. Irgendwann wurde jemand an einem Spieltisch erschossen. Mehr weiß ich nicht mehr. Ein perfekter Film also, ein Schlaffilm.«
    »Ich habe das Gefühl, dass wir seit Jahren nicht mehr zusammen im Kino waren und dass es, wenn wir wieder ausgehen können, gar keine Kinos mehr geben wird.«
    Gerald streichelte ihr über den Bauch. Jetzt die Augen schließen, dachte er, und in einem Monat aufwachen.
    Zwei Stunden später lag er immer noch wach im Bett. Die Erinnerung an den Tod seines Freundes ließ ihn nicht los. Ich kann nichts vergessen, sagte er zu sich selbst. Ich kann nichts Schlimmes vergessen, was jemals in meinem Leben passiert ist. Es kehrt zurück zu mir, wenn ich es am wenigsten gebrauchen kann.

2
    Batzko lehnte lässig im Türrahmen. Jeans, ein tailliertes Hemd – die oberen Knöpfe geöffnet, um dem Brusthaar Frischluft zu garantieren – der Schädel glatt rasiert, ein schwarzer Dreitagebart, der die scharfen Gesichtszüge grundierte. Die Muskulatur seiner 192 Zentimeter in jahrelangem Training ausmodelliert: eine Doppelpackung Testosteron auf zwei Beinen.
    Grinsend gab er den Weg ins Büro frei. »Ausgeschlafen?«
    Gerald stellte die Kaffeetasse auf seinen Schreibtisch und schaltete den PC an.
    »Hat jemand in der Dienstbesprechung nach mir gefragt?«
    »Nein. Wer sollte schon nach dir fragen? Ich habe dich entschuldigt.«
    Gerald trank einen Schluck und zog die Schultern hoch. Er war mit höllischen Nackenverspannungen aufgewacht, weil Severin in Neles Armen geschlafen hatte und sie, um ihm genügend Raum zu geben, Gerald an die Zimmerwand gedrückt hatte.
    »Du siehst zum Kotzen aus, Kollege. Wie Schimmelkäse. Soll ich dich verhaften, damit du in der Arrestzelle ein paar Stunden pennen kannst?«
    »Du würdest doch nur den Schlüssel wegwerfen, um schneller Karriere zu machen.«
    Batzko machte eine begütigende Handbewegung. »Dazu muss alles nur so bleiben, wie es ist. Außerdem vögelst du zu wenig.«
    »War das etwa das Thema in der Dienstbesprechung?«
    »Der Polizeipräsident persönlich hat es angesprochen. Im Ernst«, sagte Batzko und schob die Tageszeitung auf Geralds Schreibtisch. »Schlafmangel in der Phase ist normal, das habe ich schließlich auch zwei Mal durchgemacht. Aber nichts ist so wichtig wie …«
    »Ich kann mir vorstellen, wie das bei dir abgelaufen ist. Vermutlich hast du im Kreißsaal erst zwei Hebammen bei einem Dreier vernascht und am Morgen nach der Geburt deine Frau. Entschuldige. Ich meinte natürlich: deine Ex-Frau .«
    Batzko ließ sich nicht aus der Fassung bringen.
    »Man sieht es dir an. Ich sehe es dir an. Es steckt in deinen missmutigen Mundwinkeln. In deinen müden Augen. In deiner latenten Unzufriedenheit. Sexuelle Frustration steht auf deiner Stirn, dick und fett. Medizinisch gesehen könnt ihr es wieder den ganzen Tag treiben. Für die Zeit davor hätte es ein bisschen Phantasie gebraucht, zugegeben. Aber eine liebende Frau …«
    »Halt die Klappe«, fiel ihm Gerald ins Wort und spürte, wie er nun richtig wütend wurde. Batzko hatte Recht, aber Gerald würde ihm nie und nimmer Recht geben. »Muss ich dich daran erinnern, dass ich dich eines Morgens in der Tiefgarage gesehen habe, heulend über dem Lenkrad zusammengeklappt, ein Foto mit deinen beiden Kids in der Hand?«
    Gerald wusste, dass er mit dieser Breitseite das Thema beenden konnte, und tatsächlich griff Batzko hinter sich ins Regal und holte eine Akte heraus.
    »Lang ist’s her. Und am Ende war es für alle Seiten besser so«, sagte er und achtete darauf, dem Blick seines Kollegen auszuweichen.
    Gerald sah aus dem Fenster. Es war ein warmer Junitag, der Himmel beinahe wolkenlos, die Luft klar. Er hatte Lust, mit Nele und Severin im Englischen Garten spazieren zu gehen, Eis zu essen und Severins Genesung zu feiern. Gedankenverloren blickte er auf das Foto, das er genau einen Monat nach der Geburt seines Sohnes geknipst hatte. Es stand neben seinem Telefon, an der Grenze zu Batzkos Schreibtisch. Als dieser
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