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Die Narbe

Die Narbe

Titel: Die Narbe
Autoren: Frank Schmitter
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ihm grinsend die Zeitung reichte, stieß er die Fotografie um, absichtlich, da war sich Gerald sicher.
    »Ist bei der Dienstbesprechung von dem Mann gesprochen worden, der gestern Abend aus dem vierten Stock gefallen ist?«
    »Der Selbstmörder?«
    »Ist das sicher?«
    »Die Kollegen von der Streife haben keinen Hinweis darauf gefunden, dass jemand mit ihm in der Wohnung gewesen wäre. Die Spurensicherung war vor Ort, hat aber auch nichts Verdächtiges entdeckt.«
    »Gab es einen Abschiedsbrief? Wurden Medikamente gefunden? Gab es Zeichen für Alkoholmissbrauch? Lief der Fernseher noch?«
    Batzko schob seinen Oberkörper nach vorne und legte die Ellbogen auf den Schreibtisch. »Deine Gründlichkeit am frühen Morgen nervt ein wenig, Kollege. Alles Fehlanzeige, soweit ich mich erinnere. Ein simpler Suizid, so etwas soll bekanntlich in den besten Familien vorkommen. Aber wieso interessiert dich das so brennend? Wieso weißt du überhaupt davon, Langschläfer?«
    »Ich war gestern Abend im Kino.«
    Batzko pfiff durch die Lippen. »Gerald auf dem Weg zurück ins Leben. Ich fass es nicht!«
    »Danach habe ich mir etwas die Beine vertreten und bin zufällig durch die Lindwurmstraße gelaufen, allerdings nachdem es passiert war. Ist der Mann am Unfallort umgekommen?«
    Batzko hatte seine normale Sitzposition wieder eingenommen. Er antwortete betont desinteressiert in den geöffneten Aktenordner. »Der Notarzt hat ihn noch reanimieren können, doch dem Typen sind dann zwei oder drei Stunden später im Krankenhaus die Lichter ausgegangen. Die Kopfverletzungen waren zu schwer. Soweit der O-Ton aus der Dienstbesprechung. Aber ich kann deinen fehlgeleiteten Ehrgeiz beruhigen: Der Leichnam ist zur Gerichtsmedizin transportiert worden. Und jetzt machen wir uns an die Arbeit, okay? Die Staatsanwaltschaft wartet nicht gerne.«
    Es gab mehrere Fälle von gefährlicher Körperverletzung, einen Tankstellenüberfall und eine versuchte Vergewaltigung, die sie an die Justiz weiterleiten mussten, versehen mit allen Zeugenaussagen, medizinischen Gutachten und den eigenen Ermittlungsergebnissen. Wenn Batzko Berichte schreiben musste, schob er unter der Anspannung stets die Unterlippe zwischen die Zähne; die dichten Haare über seinem Kinn erhoben sich zu stacheligen Borsten. Dazu brummte er vor sich hin; es klang wie das Selbstgespräch eines Greises, der sein Gebiss verloren hatte. Batzko liebte seinen Beruf, er liebte den Adrenalinschub während der Ermittlungen, den Wettkampf mit dem Täter, den Triumph der Verhaftung – aber er verfluchte den bürokratischen Rattenschwanz, den jeder Fall nach sich zog. Er hasste den Computer mehr als jeden Kriminellen.
    Als Batzko um halb zwölf das Büro verließ, rief Gerald in der Gerichtsmedizin an. Er hatte Glück und konnte mit dem Forensiker sprechen, der die Untersuchung an dem jungen Mann, der vom Balkon gefallen war, gerade abgeschlossen hatte. Gerald hatte Dr. Wembler noch nicht persönlich kennengelernt, weil dieser erst wenige Wochen zuvor seine Stelle angetreten hatte. Seine Stimme klang sehr jung.
    »Also: Exitus durch die schweren Sturzverletzungen, genauer, einen mehrfachen Schädelbasisbruch mit folgender Hirnlähmung. Die weiteren Frakturen und Blessuren haben da nur dekorativen Charakter, wenn ich mich so ausdrücken darf. Er hätte keine Chance gehabt, selbst wenn er direkt neben einem OP-Tisch gelandet wäre.«
    »Medikamente? Alkohol? Drogen?«
    »Jederzeit gerne; wenn die Preise stimmen, bin ich dabei. Aber nicht bei unserer Leiche.«
    »Keine Anzeichen einer körperlichen Auseinandersetzung? Keinerlei Auffälligkeiten?«
    »Nichts dergleichen. Da ist nur eine Merkwürdigkeit …«
    Eine Pause trat ein. Gerald hörte, wie Dr. Wembler in den Unterlagen blätterte. Dann räusperte er sich.
    »Eine Amputation des linken Unterarms oberhalb des Ellbogens. Vermutlich nach einem Unfall; der Mann war ja jung und gesund wie ein Obstkorb, soweit es sich in der Untersuchung darstellt. Wobei es nicht die Amputation an sich ist, die mich irritiert …« Der Gerichtsmediziner hielt erneut inne. Dem Geräusch nach zu urteilen, tippte er mit einem Kugelschreiber nervös auf die Mappe mit den Obduktionsberichten.
    »Ja? Ich höre.«
    »Es ist die Narbe. Sie sieht fachmännisch aus, eindeutig sogar, aber es ist keine normale Operationsnarbe. Sie sieht aus wie … ja, wie Sonnenstrahlen. Linien, die auf ein Zentrum zustreben, so kunstfertig wie ein Tattoo. Es gibt keinen medizinischen Grund
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