Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Narbe

Die Narbe

Titel: Die Narbe
Autoren: Frank Schmitter
Vom Netzwerk:
Solche Menschen gibt es ja. Mein Schwager gehört auch dazu.«
    »Kann das mit der Behinderung zu tun haben, Ihrer Meinung nach?«
    Müllersohn schüttelte entschieden den Kopf. »Die hat er erst seit ein paar Monaten. Das war ein Unfall, hat er erzählt, im Ausland. Er ist gestürzt, ein Auto ist über den Arm gefahren, und es kam im Krankenhaus zu irgendwelchen Komplikationen nach der Operation.«
    »Hat ihn das depressiv gemacht?«
    Der Hausmeister antwortete nicht sofort, als fürchtete er, nicht die richtigen Worte zu finden. »Das Komische war, dass er danach irgendwie besser gelaunt war. Er war offener, hat mehr mit den Leuten im Haus geredet. Einmal habe ich im Flur jemanden lachen hören und dachte, die Stimme kenne ich nicht. Ich bin raus und habe gesehen, dass es der Alexander war. Da habe ich gemerkt, dass es das erste Mal überhaupt war, dass ich den Alexander lachen gehört habe. Das soll ein Mensch verstehen. Ist doch seltsam, oder? Da fehlt ihm der halbe Arm, unsereiner denkt, wie soll das jetzt werden mit der Arbeit, dem Computer, Autofahren, den Mädchen und all das. Und dann ist der Junge irgendwie … ja, so …«
    »Gelöster? Mehr er selbst?«
    Müllersohn streifte die Asche seiner Zigarette ab. Er nickte Gerald zu. »Das ist es. Mir haben nur die Worte gefehlt. Damit habe ich es nicht so, mit den Worten, verstehen Sie?«
    »Ich habe Sie sehr gut verstanden. Darf ich mir seine Wohnung kurz ansehen?«
    Müllersohn stand langsam auf, indem er sich mit der linken Hand auf der Couch abstützte. Seine spärlichen schwarzen, nach hinten gekämmten Haare fielen ihm über die Stirn, als er die Zigarette im Aschenbecher ausdrückte, und in diesem Moment sah er aus wie eine alte, verlebte Frau. Wie eine Waschfrau in einem Roman des neunzehnten Jahrhunderts, dachte Gerald.
    Müllersohn griff nach einem Schlüsselbund und stieg vor Gerald die Treppe hoch. Seine linke Hand umklammerte das Geländer. Man habe viel Geld in die Renovierung gesteckt, erzählte er, von ständigem Schnaufen unterbrochen, aber einen Aufzug habe man nicht einbauen können: zu eng alles, zu schwache Bausubstanz. Er ging mit jedem Stockwerk langsamer. Gerald hatte den Verdacht, dass er an diesem Tag doch nicht nur alkoholfreies Bier getrunken hatte. Dabei fand er Müllersohn nicht einmal unsympathisch, und es war unverkennbar, dass der Hausmeister Alexander gemocht hatte.
    Im vierten Stock bemerkte Gerald, dass die Spurensicherung den Wohnungseingang nicht versiegelt hatte. Die hatten wohl, als es zwölf schlug, endlich ihren Arbeitstag beenden wollen und einen vermeintlich klaren Fall einen klaren Fall sein lassen, dachte Gerald. »Alexander Faden« stand über der Klingel.
    Müllersohn lächelte erleichtert, als er den Aufstieg in den vierten Stock bewältigt hatte. Er öffnete, nachdem sich sein Atem etwas beruhigt hatte, die Tür und ließ Gerald den Vortritt.
    Die Wohnung machte auf den ersten Blick einen aufgeräumten Eindruck. Das galt gleichermaßen für die Küchenzeile, das kleine Bad mit WC und Dusche, das schmale Schlafzimmer und den großen Wohnraum. Er war eher gediegen als studentisch eingerichtet, auch wenn Gerald nicht unbedingt Apfelsinenkisten statt eines Bücherregals und eine nackte Matratze auf dem Fußboden statt eines Bettes erwartet hatte.
    Vor dem Fenster, das zur Lindwurmstraße ging, stand ein großer Schreibtisch mit verstellbarer Arbeitsfläche. Darauf lag eine dieser Künstlermappen, die man mit einer Art Schnürsenkel in der Mitte zusammenhält. An den Wänden hingen Poster, die verschiedene Objekte aus dem Alltag zeigten: einen Flaschenöffner, einen Stuhl, einen stummen Diener, den Gerald erst auf den zweiten Blick als solchen erkannte. Sie waren vermutlich aus einer Zeitschrift für Design ausgeschnitten; man konnte erkennen, dass sie gefaltet waren; außerdem war am rechten Rand vermerkt, welchen Preis das Objekt bei welcher Fachmesse bekommen hatte.
    Entweder, überlegte Gerald, hatte Alexander eine schöne monatliche Überweisung von seinen Eltern bekommen, oder er verdiente nebenbei so gut, um sich eine renovierte Altbauwohnung mit dieser Einrichtung leisten zu können.
    Er trat auf den Balkon, der Platz für einen Bistrotisch und zwei Klappstühle bot, die an der Wand lehnten. Keine Bepflanzung. Auf der Lindwurmstraße röhrten in diesem Moment drei schwere Motorräder vorbei.
    »Herr Müllersohn?«
    Keine Antwort. Gerald ging zurück in die Wohnung.
    Müllersohn stand bereits in der Diele, die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher