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Die Narbe

Die Narbe

Titel: Die Narbe
Autoren: Frank Schmitter
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Karte.
    »Sieh an. Ein Psychoklempner. Das passt doch wie die Faust aufs Auge«, sagte er und griff zum Telefon. »Wollen wir doch mal sehen.« Er tippte die Nummer ein und presste, während das Freizeichen ertönte, einen Gummiball in der rechten Hand. Die Muskeln zuckten. »Ah, guten Tag, ist dort die Praxis von Dr. Chateaux? Kann ich ihn bitte kurz sprechen? … Ach, Sie sind es selbst. Damit rechnet man ja nicht … Ja, Psychotherapeuten brauchen keine Sprechstundenhilfe, auch keine männliche, haha … Natürlich, daran habe ich nicht gedacht, Sie haben Recht. Ich bin Kriminalhauptkommissar Batzko, zuständig für Gewaltdelikte. Es handelt sich um eine reine Routinefrage. Sagt Ihnen der Name ›Alexander Faden‹ etwas? … Warum? Nun, Sie wissen es vielleicht noch nicht, aber Herr Faden ist in der letzten Nacht verstorben … Ja, schrecklich, ein junger Mann … Nein, wir gehen von keinem Gewaltverbrechen aus. Wie schon gesagt, reine Routine. Ich möchte nur wissen, ob Sie ihn kannten, ob er bei Ihnen in Behandlung war … Ich weiß, Ihre ärztliche Schweigepflicht; ich möchte nichts Besonderes wissen, und dieses Telefonat hat es auch nie gegeben. Sie ersparen uns einfach nur ein Stück Bürokratie. Es wäre doch für Sie viel umständlicher und zeitraubender, wenn wir Sie zu uns in Präsidium zitieren müssten, nicht wahr? Vielen Dank … Aha, in Behandlung seit ungefähr anderthalb Jahren … Erst Einzel- und danach Gruppentherapie, ah ja … Ohne in medizinische Details gehen zu wollen: Litt Herr Faden vielleicht unter Depressionen? … Ich weiß, das ist eine sehr pauschale Formulierung, trotzdem bitte eine Antwort … Periodische Schübe von Verzweiflung und Apathie, in der Gruppentherapie Anzeichen von Resignation, hm … Halten Sie einen Suizid für denkbar? … Ja, ich weiß, dass man diese Frage in dieser Form eigentlich nicht stellen kann. Trotzdem bitte … Im Gesamtrahmen des Krankheitsbildes nicht auszuschließen … Ich denke, das war für uns die zentrale Aussage. Wir werden Sie definitiv nicht mehr behelligen. Danke noch einmal für Ihre Kooperation. Guten Tag.«
    Batzko legte den Hörer zurück. Er hob die Visitenkarte in Brusthöhe, zerriss sie demonstrativ in kleine Stücke und warf sie in den Papierkorb.
    »Überleg dir beim nächsten Mal besser, ob du einen Alleingang riskierst und mich hier die Akten fressen lässt«, maulte er. »Du bist überspannt, sexuell trockengelegt, übermüdet. Geh heute Abend ein Bier trinken. Oder noch besser – lade mich heute Abend zum Bier ein, dann vergebe ich dir.«
    »Geht nicht. Nele ist so platt, dagegen bin ich ein frischer Bergquell. Ein anderes Mal.«
    Batzko runzelte die Stirn. Dann öffnete er die rechte Hand und streckte sie aus. »Für deinen blöden Soloritt schuldest du mir etwas. Ich lass dich da nur raus, wenn du versprichst, mit mir an einem der nächsten Abende ins Fitnesscenter zu gehen. Und nach dem Workout in eine Kneipe meiner Wahl.«
    Gerald schlug ein.

3
    Der Kinderwagen stand nicht im Hausflur. Nele hatte sicher die milden Abendstunden für einen Spaziergang genutzt.
    Gerald stieg mit schnellen Schritten in den zweiten Stock. Es kostete ihn eine gewisse Anstrengung, obwohl er vor wenigen Stunden in den vierten Stock hatte gehen müssen. Aber da hatte Müllersohn ein extrem gemächliches Tempo vorgegeben. Gerald überlegte, wann er zum letzten Mal Sport getrieben hatte. Vor Severins Geburt, musste er feststellen; das wird eine saubere Blamage werden, überlegte er, neben Batzko auf dem Laufband und an den Geräten.
    Die Stille in der Wohnung war ungewohnt und fast ein wenig unheimlich. Er ging in die Küche und schenkte sich eine Apfelschorle ein. Dabei fiel sein Blick auf den Babyentwicklungskalender, der über dem Küchentisch an der Wand hing. Er listete mit vielen bunten Bildern, witzig gemeinten Zeichnungen und der unvermeidlichen Produktwerbung auf, was ein Baby in jedem Monat des ersten Lebensjahres lernt. Für Nele hatte dieser Kalender die Funktion eines allmächtigen Angstmachers übernommen. Sie hatte hinter jede der angezeigten Fähigkeiten mit dem Tagesdatum notiert, wann Severin sie erreicht oder wann sie zumindest in Ansätzen erkennbar geworden war. Gab es eine Verzögerung, so wies ein Pfeil auf den folgenden Monat, und Nele hatte das erlösende Datum mit Rotstift festgehalten.
    Mit diesem Tag hatte der vierte Monat begonnen. Gerald nervte dieser Kalender, er wollte ihn keine Sekunde länger ansehen müssen und ging
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