Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Narbe

Die Narbe

Titel: Die Narbe
Autoren: Frank Schmitter
Vom Netzwerk:
Hand an der Türklinke. Es war ihm anzusehen, dass er gehen wollte. »Der schmeißt doch sein Leben nicht einfach so weg, der Alexander. Der nicht. Niemals«, sagte er mit zittriger Stimme und wischte sich über die Augen. Dann drehte er sich um und ging hinaus auf den Flur. Gerald warf einen Blick auf die Pinnwand aus Kork neben der Eingangstür. Außer den üblichen Faltblättern von Pizza-Services, China-Restaurants und Postkarten befand sich dort die Visitenkarte eines Psychotherapeuten. Gerald steckte sie unbemerkt ein und schloss die Wohnungstür hinter sich.
    »Was haben Sie gestern Abend gemacht, als das Unglück passierte?«
    Müllersohn schnaufte und blickte Gerald gequält an. »Das habe ich doch schon Ihren Kollegen erzählt. Und jetzt kommen Sie auch noch damit.«
    »In wenigen Sätzen, bitte.«
    Der Hausmeister legte die rechte Hand auf das Treppengeländer und stellte sich so, dass er nicht auf Alexander Fadens Wohnungstür schauen musste. »Ich hab ferngesehen. Den Sturz habe ich nicht mitbekommen, verstehen Sie? Da hat nur jemand auf der Straße geschrien: Krankenwagen, Polizei und so. Im Haus ist es sonst ganz ruhig gewesen, deshalb bin ich nicht sofort raus. Was geht es mich an, wenn auf der Straße was passiert? Als es aber immer lauter wurde, bin ich auf die Straße und habe den Alexander gesehen.«
    Müllersohns Augen füllten sich mit Tränen. Er machte sich nicht die Mühe, sie zu verbergen. »Hätten Sie bemerkt, wenn jemand das Haus verlassen hätte?«
    »Vielleicht. Weiß nicht. Der Fernseher war ja an, verstehen Sie? Und als ich draußen beim Alexander war, da habe ich nicht auf das Haus geachtet.«
    »Kommt man über den Innenhof raus?«
    Müllersohn nickte. »Komisch. Das haben die mich gestern gar nicht gefragt. Wenn man sportlich ist, kann man über die Mauer in die anderen Hinterhöfe. Es war ja schon ziemlich dunkel.«
    »Gibt es noch andere Leute im Haus, zu denen Alexander näheren Kontakt hatte?«
    »Zur Kattowitz, gleich unter uns. Er hat abends manchmal auf ihr Kind aufgepasst.« Müllersohn schien heilfroh, dass das Gespräch anscheinend endlich zu Ende war. Er ging so schnell wie möglich die Treppe hinunter und deutete auf die linke Tür in der dritten Etage.
    »Herr Kommissar, darf ich jetzt …?«
    Gerald nickte. Das Geländer zitterte, als Müllersohns schwere Hand darauf fiel.
    Nach dem ersten Klingeln hörte Gerald ein Geräusch in der Wohnung. Gerald wartete, bis Müllersohn seine Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte. Dann klingelte er noch einmal. Niemand öffnete. Er warf einen kurzen Blick auf die Visitenkarte des Arztes, die er in die Brusttasche seines Hemdes gesteckt hatte, bevor er ein letztes Mal klingelte.
    Batzko sah demonstrativ auf die Uhr, gab aber keinen Kommentar von sich. Gerald setzte sich nach einem stummen Handgruß und nahm sich die nächste Akte vor. Aber er konnte sich nicht auf seine Arbeit konzentrieren. Seine Gedanken kehrten permanent zu Müllersohn zurück. Der Hausmeister hatte nicht wirklich einen Einblick in Alexanders Leben gehabt, und dennoch schloss er einen Selbstmord kategorisch aus. Er vertraute seiner Menschenkenntnis, und er glaubte in diesem Fall den Eindruck von Müllersohn teilen zu können.
    Nach einer halben Stunde lehnte er sich zurück und holte die Visitenkarte aus der Hemdtasche.
    »Ich war in der Lindwurmstraße, Batzko«, sagte er und berichtete von seinem Gespräch mit Müllersohn.
    Batzko schob den Aktenstapel rasch von sich weg. »Ich hätte es mir denken können. Gerald, der Grübler. Gerald, der Zweifler. Der mit den Toten flüstert. Verdammt, für alle Beteiligten ist der Fall klar, für die Streife, für die Spurenermittler – nur mein engster Kollege hat Kontakt zu Geistern. Er hört Stimmen, die andere nicht hören.«
    »Ich höre keine Stimmen, Batzko. Ich höre ihnen zu. Das ist der Unterschied.«
    »Mit anderen Worten: Die Kollegen der Streife und die Spurenermittler sind stocktaub. Und du bist die Fledermaus, ja?«
    »Batzko, da stimmt etwas nicht. Das fühle ich.«
    Batzko schüttelte den Kopf. Er schaute einen Moment aus dem Fenster, als wolle er Gerald bedeuten, dass die Diskussion ihn langweilte. Dann fragte er: »Was hast du da in der Hand?«
    »Was? Ach so, die Visitenkarte eines Therapeuten, die an der Pinnwand in der Wohnung des Toten hing.«
    »Gib sie mir!«
    »Warum?«
    »Darum.« Noch ehe Gerald reagieren konnte, schnellte Batzkos Arm pfeilschnell hervor und schnappte sich die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher