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Die Nanowichte

Die Nanowichte

Titel: Die Nanowichte
Autoren: Andrew Harman
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schließlich bestand die Gesamtbevölkerung zu neunundneunzig Prozent aus professionellen Propheten, Sehern und Wahrsagern.
    Wenigstens zwei Möglichkeiten hätte er gehabt, um alles kommen zu sehen.
    Wäre er Oberauspizient der Abteilung ›Haustiere und andere Unglücksboten‹ gewesen, dann hätte er es Mitte letzter Woche schon gewußt. Er hätte dann wahrscheinlich beim Frühstück im Kaffeesatz gelesen, hätte mit den Fingern geschnalzt, und schon wäre ihm klar gewesen, daß sein Weckvogel frühmorgens nicht loskrächzen würde. Aber leider konnte Quintzi die Aktionen tierischer Unglücksboten genausowenig vorhersagen, wie eine handelsübliche Badematte in der Lage war, mit Feuerskorpionen zu jonglieren. Wenn es aber darum ging, wie sich durch sorgfältige, turnusmäßige Umlagerung des Saatgutes Avocadokäferbefall in den Vorratsscheuern vermeiden ließ, dann war er der richtige Mann. Es mochte ja zutreffen, daß er nichts, gar nichts vorhersehen konnte. Dafür konnte er etwas anderes: Er konnte sich in Windeseile aus einer mißlichen Lage herauswinden. In jahrelanger Übung hatte er die Fähigkeit zu lügen zu absoluter Perfektion entwickelt.
    Glücklicherweise gab es für die überabergläubischen Bewohner von Axolotl aber noch eine andere, weit gängigere Möglichkeit festzustellen, ob der Tag mit schmerzlichen Überraschungen aufwarten würde oder nicht; eine Möglichkeit, die viel weniger umständlich war als der angestrengte Blick in eine Tasse mit kaltem Kaffee oder in eine noch so gut eingestellte Glaskugel; eine Möglichkeit, bei der das Risiko, Migräne zu bekommen, weitgehend ausgeschlossen war. Die kurze Durchsicht einer gewissen Wochenschrift genügte, um alles zu wissen, was man für die Planung des jeweiligen Tages unbedingt wissen mußte: von der Wahl der sympathetischen Sockenfarbe, mit der man Fortuna becircen konnte, bis hin zu Amulettempfehlungen und einer Auswahl treffender Spruchweisheiten. Ob man wissen wollte, welches Schicksal einem beschieden war, ob man erfahren wollte, wie es weiterging – in der Schönen Aussicht fand man die Antwort, in der Beilage der Zeitschrift Der Axolotische Vorbote. Quintzi starrte die Vorausmeldung an und fluchte. Kein Wunder, daß er es nicht hatte kommen sehen! Ein Kryptogramm! Entsetzt überflog er die ersten Zeilen und raufte sich verzweifelt den dünnen grauen Bart.
     
    Beruf und Karriere: Myslie erstickt Hoffnung
    auf berufliches Fortkommen. Glücksfarben des Tages:
    Magenta und Braunrot. Glücksstein des Tages:
    Domino. Vermeiden Sie frischgeschliffene Dolche
    und herrenlose Schierlingsbecher …
     
    Durchschnittskost. Wie üblich jede Menge Durchschnittskost: detaillierte Hinweise, wann man sich wo aufhalten sollte, wenn man seiner großen Liebe begegnen wollte; wann man sich wo besser nicht aufhielt, wenn man nicht umgebracht werden wollte; vierundsechzig verschiedene Gesänge für vierundsechzig alltägliche Krisenfälle, von ›Zusammengefallenes Soufflé‹ bis ›Sand in der Vaseline‹. Aber nirgendwo ein Hinweis darauf, daß sein Papagei nicht loskrächzen und ihm damit – gleichsam mit einem Flügelschlag – alle Aussichten auf Ruhm und Berühmtheit zunichte machen würde. Er las noch einmal die erste Zeile der Voraussage und kam schnell zum gleichen Schluß, zu dem er schon gestern gekommen war. Der Gebrauch des Verbums ›ersticken‹ wies immer darauf hin, daß der korrekte Name des Subjekts der Prognose hinter einer unüblichen orthographischen Form versteckt und als Anagramm abgefaßt war. Wenn man also im vorliegenden Fall die Buchstaben des Wortes ›Myslie‹ (kryptogrammatische Schreibung für ›Müsli‹) umstellte, ergab sich ganz eindeutig ›Miesly‹ – der Name seines Chefs beim Obsteinlagerungsdienst. Und daraus wieder ergab sich folgerichtig der Rest: Miesly hintertrieb seine Beförderung. Noch klarer ging es nicht. Quintzi hatte es sich als sein ureigenes Verdienst angerechnet, daß die diesjährige Avocado-Ernte die Lagerung frischer und knackiger überstanden hatte als jede Ernte zuvor, und Miesly hatte ihm dieses Verdienst immer streitig machen wollen. Die Narben, die er aus der hitzigen … äh … Debatte zu diesem Thema davongetragen hatte, bezeugten das überdeutlich. Immer noch.
    Quintzi starrte den zitternden Vogel in seiner Faust böse an und knurrte von Minute zu Minute wütender. »Alles nur deine Schuld, du blöder, nichtsnutziger Papagei!« schrie er und schleuderte das verängstigte Geflügel quer
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