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Die Nanowichte

Die Nanowichte

Titel: Die Nanowichte
Autoren: Andrew Harman
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durchs Zimmer. Und als es von der Sonnenuhr abprallte und als würgender, prustender Farbwirbel auf den Boden krachte, da grinste er sadistisch. Tiemecx wälzte sich melodramatisch auf den Rücken, faßte sich an den Hals, und sein Gesicht lief unter der leuchtendgrünen Befiederung rot an. Er schnappte wild nach Luft, wand sich und flatterte wie eine epileptische Fledermaus, hustete noch ein letztes Mal und dann – dann schoß etwas Hartes aus seinem Schnabel, zischte pfeifend durch das Zimmer, erwischte Quintzi mit einem schallenden Klatschen am Auge und fiel auf den Boden. Quintzi starrte erschrocken auf das harte schwarzweiße Etwas und funkelte den Papagei wütend an.
    Tiemecx versuchte es mit einem Lächeln. Es mißlang. Darauf beschloß er, auf eine Art und Weise mit den Krallen zu spielen, die einen ebenso gerissenen wie gewinnenden Eindruck machen sollte. Genau in diesem Moment begriff Quintzi, daß die Voraussage im Axolotischen Vorboten alles andere als ein Kryptogramm gewesen war. Die Erkenntnis traf ihn so heftig, daß ihm der Kopf schwirrte. ›Ersticken‹ war gar kein Hinweis auf ein Anagramm; die Botschaft lautete, etwas umformuliert, klar und eindeutig so: ›Der verdammte Papagei wird um ein Haar an einer Müslizutat, an einem Sonnenblumenkern, ersticken. Vielleicht auch nicht – lassen Sie sich überraschen!‹
    Quintzi schrie, feuerte den Axolotischen Vorboten in die Ecke, stürzte zur Tür hinaus, hetzte die Treppe hinunter und brüllte einen Schwall ornithologischer Verwünschungen. Damit der Vogel das Bibbern nicht verlernte.
    Wenn er es schaffte, noch vor Beginn der Auguralien am Großen Gemeindetempel zu sein, dann konnte er das Konsilium eventuell zur Nachsicht bewegen. Dann konnte er – wenn ihm der Nachweis gelang, daß die Voraussage inkorrekt war – vielleicht sogar eine Klage erwirken. Die korrekte Bezeichnung hätte schließlich, wenn schon nicht ›Sonnenblumenkern‹, dann wenigstens ›Müslizutat‹ oder vielleicht auch ›Müslibestandteil‹ lauten müssen, nicht wahr? Natürlich wußte er, daß derartige Korrekturverfahren ganz schön ins Geld gehen konnten. Aber die Chance, eine Auszeichnung zu erhalten, war diesen Preis durchaus wert.
    Er rannte auf die Straße – auf eine der vielen alten Sandsteinstraßen von Axolotl –, warf schnell einen Blick auf seine Armbandsonnenuhr und zuckte zusammen. Das konnte knapp werden! Aber wenn die Brückenechsenstraße frei war, dann war es vielleicht noch zu schaffen. Also: Was hatte die Verkehrsvoraussage für heute prognostiziert?
    Er schleuderte um eine scharfe Kurve, bog in die nächste Gasse und … und erst jetzt fiel ihm ein, daß er heute den ›Vorausblick am Morgen‹ nicht gelesen hatte. Wenn er doch bloß daran gedacht hätte! Auf der Brückenechsenstraße wuselte es den ganzen Tag über von geschäftigen und emsig beschäftigten Axolotianern! Verdammt! Er wußte nicht mehr, wo ihm der Kopf stand. Wenn er den Umweg durch die Seitenstraßen nahm und dann über die Brücke in den dritten Stock des Großen Gemeindetemp … Nein! Die Brücke war laut Voraussage vom Vortag wegen Reparaturarbeiten ganztägig gesperrt. Er stolperte über einen Spalt im holprigen Straßenbelag, sein Ischiasnerv zuckte schmerzhaft. Es nützte nichts: Menschenmassen hin oder her – er mußte es über die Brückenechsenstraße versuchen. Allein schon wegen des besseren Straßenbelags.
    Außerdem war es nicht mehr weit, nur noch um diese eine Ecke da vorn. Er machte kehrt und hätte beinahe hysterisch aufgeschrien. Es war unglaublich: Massen von Händlern und Verkäufern, die die Straße blockierten, Horden kaufwütiger Kunden, die wie in Trance dahintorkelten … Nichts davon! Zum ersten Mal im Leben sah Quintzi Cohatl eine vollkommen leere, verwaiste Brückenechsenstraße. Ein scheußliches Gefühl kroch ihm den Nacken hinauf. Ein Zeichen? War vielleicht das seine erste unheilkündende Vision?
    Er blickte auf die verlassene Straße, die zum Großen Gemeindetempel führte, und mußte sich eingestehen, daß er – weil er sein Tageshorrorskop nicht gelesen hatte – keine Antwort auf diese Fragen wußte. Blind kam er sich vor, blind und orientierungslos. Wo waren bloß die ganzen Leute? Was ging da vor sich? Lauerte hinter der nächsten Ecke womöglich eine Leiter? Konnte es passieren, daß er versehentlich auf dreizehn Risse in der staubigen Straße trat und sich damit für eine Woche eine hartnäckige Akne zuzog? Oder sah er vielleicht eine
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