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Die Nanowichte

Die Nanowichte

Titel: Die Nanowichte
Autoren: Andrew Harman
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saßen beim zweiten Frühstück! Nein, nein! Er taumelte und klappte auf seiner Hängematte zusammen – die Erkenntnis trat die Türen seiner Entschlossenheit ein und schüttete eiskaltes Wasser auf die visionären Flammen.
    Es war kein großes Omen. Es war nicht die echte Zukunftsvision gewesen, auf die er seit über sechzig Jahren wartete. Und sie würde auch nicht das Zeitenende zur Folge haben. Sondern das Ende von etwas, das im Vergleich dazu weit weniger wog, das Ende eines Federgewichts gewissermaßen … Und das, sobald er den dürren Hals dieses verdammten Vogels in die Finger bekommen hatte und anfangen konnte, ihn zu würgen …
    »Warum ausgerechnet heute?« schrie Quintzi, der seinen astrologischen Pyjama trug und an dessen Schläfe eine Ader pochte. »Warum hast du dir um der Götter willen unter sämtlichen Morgen ausgerechnet den heutigen Morgen ausgesucht, um mich verschlafen zu lassen? Soll das vielleicht ein Komplott sein?« Er spurtete durchs Zimmer, stoppte schlitternd ab, riß das erbärmliche Federbüschel von der steinernen Sonnenuhr und packte es, halb wahnsinnig vor Wut, an der Gurgel. Der Papagei keuchte und stieß ein kläglich würgendes Geräusch aus.
    »Ich sollte dich eigentlich auf der Stelle erdrosseln! Du weißt doch, wie wichtig die Auszeichnung für Augurale Akkuratesse ist, oder?«
    Tiemecx zuckte die Achseln.
    »Ha! Wie lange muß ich mich jetzt schon mit dir herumplagen? Hörst du überhaupt zu, wenn man dir etwas sagt? Die Preisverleihung der Auguralakademie ist schließlich nichts weiter als das entscheidende Ereignis des Jahres! Alles, was Rang und Namen hat in der Welt der visionären Vorausschau, kommt beim AA-Treffen zusammen, um seine Stimme abzugeben. Und zwar heute morgen!«
    Tiemecx musterte verlegen seine Krallen.
    »Und ich hätte in diesem Jahr eine Chance gehabt! Ich habe jedes größere Problem bezüglich der Lagerung von Avocados mit einem Akkuratesse-Grad von sechsundneunzig Prozent vorhergesehen!« Er schüttelte den Papagei wütend und zuckte zusammen, weil ihm seine Arthritis wieder einmal zu schaffen machte. Die Vogelaugen starrten ihn vorwurfsvoll an.
    »Na gut. Hab ich eben Glück gehabt. Aber darum geht es jetzt nicht! Warum hast du mich nicht geweckt?« Er zog dem Papagei eins mit der flachen, faltigen Hand über den Schnabel und fauchte. »Los, antworte mir! Entschuldigung gibt’s nur im Sterbefall! Und so was kann durchaus arrangiert werden!« feixte er bedrohlich. »Hast du überhaupt eine Vorstellung, wie lange ich schon im Obsteinlagerungsdienst tätig bin, hmmm? Fünfzig Jahre, von frühester Jugend an! Ich würd nicht dafür taugen, hat man mir gesagt. Es würd mit einer Katastrophe enden, hat es geheißen. Aber ich hab’s ihnen gezeigt, allen hab ich’s gezeigt! Und diesmal wäre ich bestimmt befördert worden, todsicher! Schau nicht so!« knurrte er den Papagei an, der ihn aus glasigen schwarzen Augen spöttisch anstarrte. »Ich hätte mir einen Preis holen können. Wer hat die Dürre vorausgesehen und veranlaßt, daß die Avocado-Ernte rechtzeitig eingebracht wurde? Ich! Wer hat den Hurrikan vorhergesagt? Alles hab ich vorhergesehen. Hör schon auf, den Kopf zu schütteln!« Der Papagei fixierte Quintzi scharf und vorwurfsvoll. »Is ja gut, is ja gut. Hab ich’s eben nicht gesehen. Aber das müssen die ja nicht wissen, oder? Die brauchen nicht zu wissen, daß ich hellseherisch so begabt bin wie ein Türpfosten. Ich habe meine Arbeit gemacht. Und nur darauf kommt’s an, oder? Aber jetzt ist es zu spät. Du hast es vermasselt!«
    Der Papagei zappelte sich ab und versuchte verzweifelt, auf seinen Hals zu zeigen.
    »Alles hin und alles deine Schuld! Du weißt doch, wie das Konsilium über Unpünktlichkeit denkt. Steht alles im Edikt Nr. 964, 3. Fassung, Unterabschnitt 29f: ›Wer sich anläßlich der Teilnahme an einem verabredeten Treffen säumig zeigt und mit Verspätung eintrifft, bekundet damit eine schwerwiegende Vergeudung hellseherischer Kräfte und hat so den Anspruch verwirkt, jemals wieder als verläßliche Quelle prophetischer Information angesehen zu werden.‹ Ich könnte meine Zulassung los sein, nur weil du mich nicht geweckt hast. Und das ohne Vorwarnung!«
    Plötzlich hielt Quintzi Cohatl mucksmäuschenstill. Was redete er da? Ohne Vorwarnung? Natürlich gab es eine Vorwarnung, es mußte eine geben. In der Bergstadt Axolotl geschah nichts, ohne daß es eine Vorwarnung gegeben hätte. Was nicht verwundern mußte, denn
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