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Die Nanowichte

Die Nanowichte

Titel: Die Nanowichte
Autoren: Andrew Harman
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Zeit.
    Vielmehr eine Frage des eklatanten Mangels an derselben.
    Er konnte nicht erst ewig warten, bis die Sonnenstrahlen ihren Weg durch die komplizierte Apparatur aus Linsen und Brenngläsern gefunden und das Wasser in der Wanne erhitzt hatten, wenn jeden Augenblick die letzte Minute seines Lebens anbrechen konnte. Wie lange es wohl dauerte, bis der Fluch der Schwarzsichtigen Übelunke wirksam wurde? Mit wachsender Panik sah er, wie der Zeigerschatten der Sonnenuhr die Stunden wegfraß.
    Und so geschah es denn, daß er sich – entsprechend dem althergebrachten, überabergläubischen und im Falle einer unvorhergesehenen Begegnung mit einer Schwarzsichtigen Übelunke nachträglich anzuwendenden Abwehrritual – kopfüber in drei Zoll tiefes eiskaltes Wasser warf, kreischte, rückwärts wieder heraussprang und sich kurz trockenschüttelte. Dann wickelte er sich, tropfnaß wie er war, hastig ein Handtuch um die Hüften, sauste ins Schlafzimmer und schnappte sich, halb verrückt vor Angst, eine Holzkiste, die auf dem Kleiderschrank stand. Er warf sie aufs Bett und riß den Deckel auf.
    Hätte irgendeiner der überabergläubischen Einwohner von Axolotl das Zeichen auf den Deckel der Kiste gesehen, in der Quintzi herumwühlte, es wäre ihm auf der Stelle klar gewesen, daß ihm, Quintzi, einer der dreihundertsiebzehn animalischen Unglücksboten über den Weg gelaufen war. Jedem Axolotianer wurde von frühester Jugend an eingebleut, daß ›bei Eintritt eines Notfalles nach dem Zeichen mit den Rotüberkreuz-Fingern Ausschau zu halten ist‹.
    Quintzis zerrte aufgeregt an den Schublädchen seines SCHAU-Kastens [2] , wühlte sich durch einen anscheinend unerschöpflichen Vorrat an Hasenpfoten, schleuderte regelrechte Fontänen aus Knoblauchbreipackungen in die Luft, räumte ungeduldig diverse Flaschen mit Gutsleberöl aus dem Weg und fand endlich hinter einem gutbestückten Sortiment geistvoller Trost- und Ratspender, wonach er gesucht hatte: ein geflochtenes Band, einen noch nie benutzten Talisman aus den leuchtendroten Blüten der mexikanischen Purgierwinde.
    Er streifte es umgehend über sein knochiges Handgelenk, gestattete sich zwei oder drei äußerst kurz gehaltene Seufzer der Erleichterung und drohte dem Papagei, noch unversöhnlicher als bisher schon, mit dem Finger. Dann fuhr er herum und stürzte hinaus in die Wühlechsengasse, die im hellen Sonnenlicht lag. Staub wirbelte auf, als er mit stampfendem Schritt ein zweites Mal zur Brückenechsenstraße raste, ohne dabei auf die pechschwarze Wolke zu achten, die sich unheilschwanger hinter ihm am Himmel zusammenballte. Rückenwind und irrsinnig viel Glück: Das war es, was er jetzt brauchte, wenn er noch rechtzeitig zum Beginn der Auguralien …
    Irrsinnig viel Glück … Bah! Warum lief alles immer wieder darauf hinaus? Warum konnte es nie auch nur einen Tag, einen einzigen Tag geben, der sich unabhängig von den unberechenbaren Launen des Zufalls gestaltete? Würde es denn wirklich so empfindlich gegen das Gesetz der Kausalität verstoßen, wenn einmal etwas ein paar Augenblicke lang auch für ihn problemlos lief?
    Wenn Quintzi etwas mehr Zeit gehabt hätte, dann wäre er auf die Knie gefallen, hätte die Hände vor der Brust gefaltet und die Blicke flehentlich und zweifelnd zum Himmel gerichtet. Ein klein wenig Freude nur, eine Winzigkeit – war das denn zuviel verlangt? Nach vierundsechzig Jahren …? Moment mal! dachte er im Weiterlaufen. Was für ein Datum haben wir heute? Und als er darüber nachdachte, da wurde ihm klar, warum heute ganz bestimmt nichts problemlos laufen würde. Die vereinigten Mächte des Schicksals – alle! – standen gegen ihn. Heute war Freitag der Dreizehnte, und sein Aszendent stand im Schnitter! Sein Geburtstag. Sein verdammter Geburtstag. Der fünfundsechzigste. Der schlimmste von allen.
    Am liebsten hätte er geschrien, als er jetzt mit arthritischer Hast aus der Wühlechsengasse auf die Brückenechsenstraße stürmte und die erdrückende Last so vieler böser Omina spürte. Es war schlimm genug, am Freitag dem Dreizehnten geboren zu sein, an einem Tag, der so verhängnisvoll war wie kein anderer Tag im Monat. Die Rubrik Weitblick und Warnung, die Der Axolotische Vorbote an diesem fatalen Tag brachte, umfaßte manchmal bis zu sechs Seiten. Aber was nützte ihm das? Ihm war von Anfang an beschieden, daß seine Chance, etwas zu erleben zu dürfen, das dem sogenannten Glück auch nur halbwegs ähnelte – daß diese Chance, was ihn
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